The Best American Science Fiction and Fantasy 2019 (von Carmen Maria Machado und John Joseph Adams)
|Auch in diesem Jahr habe ich die Anthologie „The Best American Science Fiction and Fantasy 2019“ mit Begeisterung gelesen. Die im Oktober vergangenen Jahres erschiene Anthologie besteht aus zehn Fantasy und zehn Science Fiction Kurzgeschichten, die die Autorin Carmen Maria Machado aus einer Vorauswahl John Joseph Adams gewählt hat. In den vergangen Wochen habe ich – unterbrochen von den Besprechungen der ersten „Star Trek: Picard“-Staffel – die Kurzgeschichten montags einzelnd betrachtet. Dieser Beitrag blickt nun noch einmal auf die verschiedenen Motive zurück, die sich aus der Auswahl ergeben. Wie jedes Jahr möchte ich im Vorfeld erwähnen, dass ich generell deutlich mehr Science Fiction als Fantasy lese. Daher überraschen mich die phantastischen Themen der Anthologien gelegentlich mehr als Science Fiction Motive. Und während das unterhaltsamer sein kann, kommt es doch häufiger vor, dass Fantasy-Erzählungen meinem Geschmack weniger zusagen als Science Fiction-Geschichten.
Ein Thema vieler Geschichten ist eine mehr oder weniger offensichtliche Bedrohung. Bereits in der ersten Geschichte, Pitcher Plant, beobachtet Adam-Troy Castro den Tod bei seiner Arbeit. Dabei kommt der Leser den Ängsten des Todes überraschend nah und die Frage steht im Raum, ob die Welt mit oder ohne den Tod wohl eine bessere sei? Die Bedrohung in Seanan McGuires Geschichte What Everyone Knows ist eigentlich klar: Ein Monster verlässt vor Seattle das Meer und zerstört die Stadt. Dennoch ist sich die Erzählerin sicher, dass das Monster lediglich zum Brüten an Land kam. Und anstatt die Behörden davor zu warnen, macht sie sich auf den Weg, die nach der Vernichtung des Monsters verlassene, höchstgefährliche Brut zu retten. In dieser Geschichte muss man sich mit de unbedingten Mitgefühl für Monster, die eine Großstadt in Stunden vernichten können, auseinandersetzen. Wie weit darf man gehen, um Leben zu retten? Ein vermeintlich gerechtes Schicksal erleidet ein Tyrann in N. K. Jemisins The Storyteller’s Replacement. Der König verspeist das Herz eines weiblichen Drachens – die männlichen sind längst ausgelöscht – um daraus Kraft zu zehren. Er setzt seine Terrorherrschaft fort, zeugt jedoch ausschließlich Töchter. Weibliche Drachen haben gelernt, sich durch diejenigen, die sich essen fortzupflanzen. Die Geschichte endet ausgesprochen brutal, der Tyrann stirbt mit der Gewalt, die er anderen zugefügt hat, und muss dabei viel über die weitaus subtileren weiblichen Ansätze der Machtausübung lernen. Die letzte der phantastischen Bedrohungen beschreibt Usman Malik in Dead Lovers on Each Blade, Hung. Hier begleiten wir aus der Sicht eines Heroin-Abhäniggen einen verzweifelten pakistanischen Ehemann auf der Suche nach seiner Ehefrau. Die ist aber längst in dunkleren Kräften aufgegangen, die bald auch die beiden Männer in ihren Bann ziehen. Dabei verarbeitet die Geschichte sehr ungesunde Besitzansprüche und bettet diese in eine spannende Dealer-Geschichte ein, bis alles in einem gruseligen Finale in einer großen Tragödie endet. In diesen vier Geschichten geht es jedes Mal um die Frage, wer oder was eigentlich die Bedrohung ist. Dadurch werden automatische und intuitive Reflexe hinterfragt, was in der derzeitigen Weltlage ein hohes Anliegen ist.
Die Anthologie enthält zudem drei Science Fiction-Geschichten, in denen es interessanterweise um pflanzliche oder medizinische Bedrohungen geht. In Sister Rosetta Tharpe and Memphis Minni Sing the Stumps Down Good beschreibt Lashawn M. Wanak wie das Auftauchen tödlicher Sporen in vielen amerikanischen Großstädten von den Behörden dazu genutzt wird, die Bevölkerung zu kontrollieren und sozial schwächere Stadtteile bewusst zu entvölkern. Perfiderweise verbreiten sie das Gerücht, dass Singen die Sporen zur tödlichen Explosion bringt. Dabei ist es tatsächlich anders herum: Nur durch Singen reagieren die Sporen auf harmlose Art. Die Erzählung ist aus der Perspektive zweier Frauen geschildert, die dazu gezwungen werden, wegen ihrer Gesangsstime unter strengen Kontrollen für die Behörden zu arbeiten. Aus der heutigen Perspektive während der Corona-Pandemie wirkt diese Warnung vor unkontrollierten, übergriffigen und geradezu unmenschlichen behördlichen Übergriffen erschreckend und unterstreicht die Bedeutung transparenter, medizinischer Forschung. Das umgekehrte Szenario entwickelt Annalee Newitz in When Robot and Crow Saved East St. Louis. Hier erlebt der Leser einen medizinischen Roboter, der seinen Arbeitgeber verliert. Aufgrund von Privatisierungen wird das Gesundheitsamt in St. Louis komplett eingestellt. Der Roboter setzt jedoch weiterhin seine Tätigkeit fort und untersucht die Bewohner der Stadt nach infektiösen Krankheiten. Als Hobby lernt er danks seiner Sprachalgorythmen die Sprache von Krähen. Dank ihrer Hilfe kann er einen gefährlichen Virusausbruch verhindern. Die Kurzgeschichte ist nicht nur wegen ihrer gelungenen und lebhaften Beschreibung des Roboters sehr gelungen, sondern illustriert die Bedeutung gut ausgestatteter Gesundheitsdienste sowie der Notwendigkeit kreativer Mitarbeiter – selbst wenn es in diesem Fall Roboter sind. Die für den Hugo-Award nominierte Novelette Nine Last Days on Planet Earth von Daryl Gregory beschreibt wie eine außerirdische Pflanze durch einen Satellitenabsturz die Fauna der Erde übernimmt. Die ruhige Erzählung beschreibt neun Tage im Leben eines Mannes, der seine ganze Energie darauf ausrichtet einen Weg zu finden, wie irdische und außerirdische Fauna miteinander leben können anstatt sich gegenseitig zu vernichten. Obwohl Gregory der Familiengeschichte seines Protagonisten zu viel Platz einräumt, ist seine Erzählung ein eindrucksvolles Beispiel wie Wissenschaft und ein offener Geist vermeintliche Bedrohungen auflösen können. Diese drei Geschichten zeigen wie Wissenschaft, Kreativität und Erfindungsreichtum zusammen mit dem unbedingten Willen, alle Menschen vor Bedrohungen und Krankheiten zu schützen, die Welt ein Stück besser machen kann. Diese vermeintlich pathetische Botschaften werden dabei in einige der spanenendsten und charakterstärksten Kurzgeschichten dieser Anthologie transportiert.
Ein zweiter großer Block setzt sich mit Gewalt auseinander. Six Hangings in the Land of Unkillable Women von Theodore McCombs beschreibt eine Welt, in der es auf einmal unmöglich wurde, Frauen zu töten. Da die Männerwelt jedoch nicht anerkennen konnte, dass tatsächlich sie das schwache Geschlecht sind, blieben alle Strafen für Körperverletzung gegenüber Frauen bestehen. Auf diese Weise werden Mörder gehängt, deren Opfer noch am Leben sind. Die Geschichte verdeutlicht auf der einen Seite, wie weit verbreitet Gewalt gegenüber Frauen ist. Auf der anderen Seite gibt es einen verstörenden Subplot, indem eine der seltenen Mörderinnen exekutiert werden soll. Gar nicht so leicht, schließlich sind alle Frauen unttötbar. Die Lösung: Andere Frauen können Frauen töten. Spielen Frauen etwa zu häufig der gesellschaftlichen Stellung der Männer zu? Ada Hoffmann greift in Variations on a Theme from Turadot eine Oper auf, in der eine Frau von einer grausamen Herrscherin hingerichtet wird. Eine Sängerin identifiziert sich so sehr mit ihrer Rolle, dass sie die Todesszene immer weiter variiert, bis die Gewalt überwunden werden kann. Die Erzählung besticht vor allem durch ihre Erzählstruktur, durch die das Ringen um eine friedliche Lösung erfahrbar wird. In Through the Flash erlebt eine Kleinstadt den selben Tag wieder und wieder. Der Clou dabei ist, dass auch diejenigen, die an dem Tag sterben, am nächsten Morgen wieder aufwachen. Bei den meisten Bewohnern führt dies zu Lethargie. Das Mädchen Ama, das ihr Leben lang gemobbt wird, nutzt dies jedoch, um regelmäßig auf Mordtour zu gehen. Doch mit der Zeit beginnt sie zu reflektieren, wo der Hass herkommt. In dieser brutalen Geschichte sind Gewalt und der Tod selbstverständlich. Und doch geht es am Ende jedem Charakter „nur“ darum, geliebt zu werden und Hoffnung auf ein besseres Leben zu empfinden. The Kite Maker von Brenda Peynado beschreibt die Ankunft Außerirdischer als Flüchtlinge auf der Erde. Sie werden bald ausgegrenzt. Die Protagonistin der Kurzgeschichte kämpfte einst gegen die Neuankömmlinge und verarbeitet nun das Trauma, dass sie wehrlose Zivilisten getötet hat, während um sie herum eine Progromstimmung gegen die Außerirdischen entsteht. Die Kurzgeschichte in ihrer Flüchtlingsthematik streckenweise zu programmatisch. Allerdings gelingt es ihr durch ihre Gewaltdynamik und vor allem einer Begegnung der Protagonistin mit einer Gewalttäterin Spannung und Emotionen zu erzeugen. Die ebenfalls für den Hugo 2019 nominierte Kurzgeschichte STET lässt den Leser an den Gedankengängen einer Mutter teilhaben, die ihre Tochter durch einen Unfall mit einem selbstfahrenden Auto verloren hat. Die Kurzgeschichte ist vor allem wegen ihrer Präsentation bemerkenswert: In einem vermeintlich wissenschaftlichen Text über selbstfahrende Autos baut die Autorin viele Hintergründe über den Unfall ein, was zu einer sehr tendenziösen Stimmung führt. Ein Kollege kommentiert den Entwurf und macht sich vor allem Sorgen über das Wohlergehen der Autorin. Obwohl die Kernidee nett ist und zum Nachdenken über in Autos verbaute Algorhythmen führt, fehlt es der Erzählung an einer wirklichen Handlung. Zuletzt beschreibt Martin Cahill in Godmeat einen verbitterten Koch, der bereit ist, brutalen Göttern zu helfen, die Menschheit zu vernichten, weil er sich von der Menschheit nicht ausreichend wert geschätzt fühlt. Obwohl es hier zu keiner direkten Gewaltdarstellung kommt, wirkt diese Geschichte doch am Brutalsten: Detailliert wird beschrieben, wie der Koch die von jemand anderem erlegten alten Götter zerlegt und den neuen Göttern als Speise zuführt. Angesichts dieser überzeugenden Atmosphäre überliest man gerne die Handlungsschwächen am Ende der Erzählung. Die sechs hochaktuellen Geschichten zeigen auf vielfältige Art, wie Gewalt noch immer ein ständiger Gegenstand unserer Gesellschaft ist.
Ein letztes größeres Thema ist Ausgrenzung. Einige der erwähnten Kurzgeschichten wie z.B. The Kite Maker, Godmeat oder Through the Flash verarbeiten die gewalttätigen Konsequenzen gesellschaftlicher Ausgrenzung. Skinned von Lesley Nneka Arimah beschreibt eine Welt, in der unverheiratete Frauen nicht nur diskriminiert werden, sondern zudem nackt bleiben müssen. Diese brutale Dystopie zeigt trotz einer unerwarteten Rettung für die Protagonistin ein hoffnungsloses Szenario, in dem wieder einmal Diskriminierte einander das Leben schwer machen anstatt für ihre Freiheit zu kämpfen. Poor Unfortunate Fools beschreibt wie die Menschheit intelligente Meerwesen beinahe ihrer Lebensgrundlage beraubt hat und anschließend daran scheitert, das Überleben der Spezies zu garantieren. Auch dieses Volk wird letztlich durch das Primat der Wirtschaft ausgegrenzt und fristet in Reservaten ein Schattendasein, das einige von ihnen verrückt macht und damit das Überleben der Meerwesen in Frage stellt. What Gentle Women Dare von Kelly Robson zeichnet das entbehrungsreiche, gebeutelte und vor allem einsame Leben einer Prostituierten im 18. Jahrhundert nach. Durch eine Begegnung mit dem Teufel erfährt der Leser viel über die Abgründe dieser eigentlich gutmütigen Frau – die aufgrund vieler negativen Erfahrungen aber mit dem Tod aller Männer leben könnte. Diese Kurzgeschichte vermischt Geschlechts- und soziale Diskriminierung zu einer Erzählung mit spannenden Dialogen und starker Atmosphäre. Und zuletzt schildert die ebenfalls für den Hugo-Award nominierte Kurzgeschichte The Secret Lives of the Nine Negro Teeth of George Washington von P. Djèlí Clark die fiktive, aber durchaus fundierte Geschichte der Ersatzzähne George Washingtons. Der einstige US-Präsident hatte scheinbar ausgesprochen schlechte Zähne, die mit der Zeit durch die gestorbener Sklaven ersetzt wurden. In Clarks Geschichte verfolgen die einstigen Träger der Szene Washington in seinen Träumen und sorgen dafür, dass er seine Haltung zu Sklaven im Laufe seines Lebens ändert. Die stärke dieser Erzählung liegt vor allem in den vielen, sehr verdichteten Beschreibungen ganzer Leben. Auch die Ausgrenzungsgeschichten zeigen wie viel Spannung in gesellschaftlichen Konflikten liegt, die hier vor allem mit phantastischen Elementen verbunden werden. Gerade zu diesem Thema hätte man sich aber auch ein paar zukunftsorientiertere, über Dystopien hinausgehende Geschichten gewünscht.
Nicht in diese drei (sehr breiten) Motive passen On the Day You Spend Forever With Your Dog von Adam R. Shannon und Hard Mary von Sofia Samatar. In ersterem geht es um die Verarbeitung des Todes eines Hundes, in letzterem um die Flucht aus einer religiösen Gemeinschaft mit Hilfe eines Roboters. Beide Geschichten konnten mich nicht begeistern. Shannons Werk fehlt der Handlungskern, Samatars Geschichte Klarheit.
Alles in allem ist die 2019er-Edition dieser hochwertigen Anthologie ausgesprochen düster ausgefallen. Den wenigen Hapy Ends (Variations, Sister Rosetta Tharpe, When Robot and Crow, The Secret Lives, Nine Last Days) stehen viele düstere Enden gegenüber. Gewalt und Ausgrenzung scheinen in den vergangenen Jahren eher zuzunehmen als abzunehmen. Und die Bedrohungen durch Krankheiten, aber vor allem auch durch politischen Extremismus, der gesellschaftliche Errungenschaften zurückdrehen möchte, sind auch nicht weniger geworden. Das wird in den Kurzgeschichten dieses Jahres oft spannend und immer intelligent aufgegriffen. Insofern setzt die Auswahl dieses Best Offs gut daran, all denjenigen, die sich im Bereich der Science Fiction und Phantastik mit den erwähnten Themen auseinandersetzen möchten, Denkanstöße zu liefern.