„Omphalos“ and „Anxiety is the Dizziness of Freedom“ (von Ted Chiang)

Die Kurzgeschichte „Omphalos“ und die Novelle „Anxiety Is the Dizziness of Freedom“ sind beide in Ted Chiangs Sammlung „Exhalation“ erschienen. In meiner Besprechung der Sammlung bin ich bereits auf beide Geschichten kurz eingangen. Angesichts der Hugo-Nominierung beider Werke möchte ich aber noch einmal detaillierter auf beide Werke zurückblicken.

„Omphalos“ erschafft eine Welt, in der jede wissenschaftliche Entdeckung, jeder archäologische oder geologische Fund und jede biologische Erklärung die Existenz Gottes bestätigen. Dr. Morell stößt dabei zwischen Vorträgen in eine Souvenirshop auf archäologische Relikte, die eigentlich einem Universitätsmuseum gehören. Sie verfolgt die Spur der Hehlerware und stößt auf die Tochter eines Professors, dessen Glauben erschüttert wurde. Ein Astronom hat herausgefunden, dass es in einem anderen Sonnensystem einen Planten gibt, der völlig still im Universum steht und vermutlich auch noch belebt ist. Höchstwahrscheinlich handelt es sich bei der Bevölkerung um Gottes ausgewähltes Volk und bei den Menschen um einen der ersten Versuche. Die Erkenntnis bringt das Weltbild vieler ins Schwanken, für Dr. Morell ist es hingegen der Beweis, dass Menschen auch im Angesicht Gottes, ihr eigenes Schicksal wählen und verfolgen können.

Der Kurzgeschichte gelingt es sehr gut, eine glaubhafte Welt zu erschaffen, in der jede neue Erkenntnis der Menschheit die Existenz Gottes unterstreicht. Es dürfte der Traum ursprünglicher christlicher Wissenschaftler sein, für die das Verstehen der göttlichen Schöpfung tatsächlich das höchste Ziel war. Dr. Morell geht es dabei ähnlich. Sie sieht sich als säkulare Forscherin, die wissenschaftliche Methoden anwendet. Und ihre Forschungserfahrung lehrt und zeigt ihr, dass sie dabei tatsächlich die Existenz Gottes beweist. Im Verlauf der Geschichte trifft sie auf einne Forscher, der ein Paper mit radikalen Konsequenzen für das menschliche Selbstbild im Angesicht Gottes mit sich bringt. Seine erste Reaktion ist, die astronomischen Erkenntnisse schlichtweg abzulehnen. Doch auch er glaubt neben Gott an wissenschaftliche Methoden und gibt das Papier, nachdem er an dessen Ansatz nichts beanstanden kann, zur Veröffentlichung frei. Der Denkprozess der beiden Wissenschaftler in der Geschichte ist spannend und einfühlsam verfasst. Man versteht, warum die katholische Kirche einer freien Wissenschaft mit Skepsis gegenübersteht. Denn so gläubig die Wissenschaftler auch sein mögen, ihre Offenheit für neue Theorien und neue Daten machen sie zur potentiellen Gefahr, sobald diese mit der Lehrdoktrin der Kirche in Konflikt geraten. Dr. Morell widerspricht als arbeitende, gar forschende Frau sowieso dem gesellschaftlichen Ideal. Durch die neueste Erkenntnis ist für sie aber endgültig klar, dass der Mensch zwar das „wie“ in Gottes Schöpfung erkennen kann, das „warum“ aber wohl nie erfahren wird. Und dementsprechend ist es möglich, die Frage nach dem „warum“ der eigenen Existenz und den daraus abgeleiteten Tätigkeiten bzw. Lebensaufgabe individuell zu beantworten. Dieser Moment freiheitlichen Denkens in einer theokratischen ist trotz seines abstrakten Themas ausgesprochen bewegend und stimmungsvoll. Alles in allem ist „Omphalos“ eine gelungene Verbindung aus Denkanstoß, klarer und schöner Sprache und interessanter Wissenschaftshandlung.

In „Anxiety Is the Dizziness of Freedom“ ist es möglich, mithilfe von Prismen in parallele Dimensionen zu schauen und sich mit seinem Gegenüber dort zu unterhalten. Durch die Aktivierung wird eine neue Dimension geschaffen, in der die aktivierende Person in der Regel eine Entscheidung anders trifft als in der Ursprungsdimension. Das hat oft weitreichende Folgen. Nat arbeitet unter ihrem Chef Morrow in einem Laden, der Prismen als Dienste anbietet, für Menschen, die gerne in eine zufällige, andere Dimension blicken möchten. Morrow ist jedoch mit den Einnahmen seines Ladens allein nicht zufrieden. Er betrügt unter anderem alte Frauen, denen er weismacht, sie könnten Geld an ihr alternatives Selbst überweisen. Er beauftragt Nat, einer Therapierunde unter der Leitung der Psychologin Diana beizutreten. Darüber hofft er, Menschen die ein schlechtes Verhältnis zu ihren Prismen haben, davon zu überzeugen, ihre Prismen günstig an Morrow abzutreten. Während sich Morrow mit seinen Verbrechen sein eigenes Grab schaufelt, muss Diana mit Schuldgefühlen aus Jugendtagen umgehen und Nat ihre Rolle in Morrows Spielen finden. Und was bedeutet eigentlich noch das eigene Handeln, wenn es unzählige andere Dimensionen gibt?

Auch dieses Setting Chiangs ist faszinierend und wirft viele spannende Fragen auf. Blicke in andere Dimensionen, Unterhaltungen mit alternativen Versionen einer selbst sind in dieser Welt eine ganz normale Dienstleistung. Das Angebot ist teuer und kompliziert, die Prismen sind nicht nur sensible, sondern vor allem auch endliche Maschinen. Zudem kann kein Prisma Kontakt zu derselben Dimension aufbauen, jedes erschafft eine neue Zeitlinie. Vor diesem Hintergrund schildert Chiang die Geschichte des Scharlatans Morrow und seiner Komplizin Nat. Während Morrow ein brutales Ende findet, tut Nat zum ersten Mal in ihrem Leben etwas wirklich Gutes. Und obwohl das nur eine sehr kleine Geste ist, bedeutet es für ihre Charakter viel. Mit dieser Geschichte und vor allem durch die Gruppentherapiesitzungen unter Dianas Leitung stellt Chiang in erster Linie die Frage in den Raum, was es mit Menschen macht, wenn sie ständig mit Alternativen ihrer selbst konfrontiert werden. Und daher bevölkert er seine Novelle mit einer Reihe faszinierender Nebenfiguren. Da ist der einmalige Gewalttäter, dem es unglaublich wichtig ist, dass seine anderen Inkarnationen nie gewalttätig geworden sind. Dadurch war seine einmalige Handlung eine Ausnahme. Da ist der vom Pech verfolgte Single, der seinem alternativen Ich den Erfolg missgönnt. Und zuletzt trägt auch Diana ihre Probleme mit sich. Aber auch Nat fragt sich zunehmend, was es bedeutet für Morrow zu arbeiten und mit endlosen alternativen Dimensionen konfrontiert zu sein. Chiang gelingt es hier noch stärker als in „Omphalos“ komplizierte Technik mit einer spannenden Handlung und essentiellen Fragen zu verbinden. Dieser Mix macht „Anxiety Is the Dizziness of Freedom“ zu einer sehr gelungenen Novelle, die den Leser mit vielen Fragen und kleinen Antworten über menschliche Selbstbestimmung und Freiheit entlässt.

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