In an Absent Dream (Seanan McGuire)

Katherine Lundy verbringt ihre Grundschulzeit ohne Freunde. Die anderen Kinder meiden sie, weil sie die Tochter des strengen Schulleiters ist. Sie sucht ihr Glück daher im Lernen und in Büchern. Auf dem Nachhauseweg trifft sie in einem bis dahin unbekannten Baum auf eine Tür. Durch sie gelangt sie auf den Goblin Markt, eine marktwirtschaftliche Welt, die von strengen Regeln und noch strengeren Strafen geprägt ist. Wer sich jedoch an die Regeln hält, auf den warten Anerkennung und Glück. Erstmals in ihrem Leben hat Katherine das Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören. Doch bis zu ihrem 18. Lebensjahr muss sie regelmäßig in ihre Heimat zurückkehren und steht zunehemnd vor der Frage, in welcher Welt sie nach ihrem 18. Lebensjahr, wenn sich die Tür für immer schließt, leben möchte: Bei ihrer Familie oder mit ihren Freunden?

„In an Absent Dream“ ist Seanan McGuires vierter Teil über Kinder, die sich aus verschiedenen Gründen in einst besuchte andere Welten sehnen und in der Regel einen Unterschlupf in Eleonores Wests Schule finden. Miss Lundy ist eine der Lehrerinnen an der Schule, die im ersten Teil brutal ermordet wird. Der vierte Teil präsentiert die Vorgeschichte des immer jung bleibenden Mädchens. Die Novellen sind für sich allein lesbar. Leser des ersten Teils, „Der Atem einer anderen Welt„, sind bereits über Miss Lundys Schicksal informiert. Für alle anderen Leser bietet vor allem das Ende der Novelle eine große Überraschung, was der Spannung durchaus zuträglich sein dürfte.

In erster Linie lebt die Novelle nämlich nicht von ihrem Spannungsbogen, sondern von der faszinierenden Welt, die McGuire beschreibt. Der Goblin Markt scheint eigentlich ein grausamer Ort zu sein. Jeder Gegenstand, ja sogar jede Information und jedes Gespräch haben einen Wert. Daher hütet sich jeder davor Fragen zu stellen. Im schlimmsten Fall geht man mit diesen nämlich bereits eine Transaktion ein. Wenn man aber eine Leistung – und sei es nur die kleinste Information – nicht mit einer entsprechenden Gegenleistung honoriert, wird man umgehend hart bestraft. Der Markt behandelt seine Teilnehmer zudem sehr unterschiedlich. Junge Menschen, die noch in ihre Heimatwelten wechseln können, werden nachsichtiger behandelt, als Menschen ohne eine solche Exit-Option. Interessanterweise führt der Goblin Markt dem Leser gleichzeitig eine grausame Version der Marktwirtschaft vor als auch eine idealisierte Version von ihr. Denn obgleich die Auswirkungen der strengen Ahnung von Verstößen brutal wirkt, so bietet sie doch wenig Schlupflöcher für Betrug und Ausbeutung. Dadurch ist der Goblin Markt aufgrund der vielen logischen Widersprüche, die ein Markt bieten muss, die bisher interessanteste, faszinierendste und nachdenklichste Welt der Reihe.

Katherine Lundy ist von dem Goblin Markt fasziniert. Hier findet sie ihre erste Freundin, hier kann sie alles werden, solange sie sich an die Regeln hält. In unserer Welt ist das nicht so. Katherine wächst in den 70er-Jahren auf und sieht sich relativ starren Erwartungen ausgesetzt, wie sich ein Mädchen zu verhalten hat. Das greift zunächst einen weiteren dialektischen Punkt des Marktes auf: Er kann gleichzeitig emanzipative Wirkungen entfalten und seinen Subjekten strikte Verhaltensmuster vorschreiben. In anderen Worten: Katherine kann im Goblin Markt leben wie sie möchte, solange sie für ihr Bett jeden Abend eine Stunde die Bücher der Archivarin sortiert, für ihre Lebensmittel Waren aus ihrer Realität für den Bäcker besorgt und sich zudem regelmäßig als Wäschefrau verdingt. Während ihre Eltern ihr viel mehr Entscheidungen über ihre Freizeit ermöglichen, erlaubt ihr der Markt mehr Lebensentscheidungen. Dabei ist zuletzt auch die erwähnte Archivarin interessant. Sie wird zunächst als helfende Hand eingeführt, entpuppt sich im Verlauf der Handlung aber als Schlüsselfigur für alle Vorgänge auf dem Markt. Katherine ist permanent mit den Widersprüchen des Marktes und ihrer Realität sowie des Lebens zwischen diesen beiden Welten konfrontiert. An ihrem 18. Geburtstag muss sie sich für eine der beiden Welten entscheiden, was ihr unmöglich fällt. Zumal Katherine am Ende in keine der beiden Welten passt. In ihrer Heimat ist sie zu sehr auf Regeln fixiert, auf dem Goblin Markt zeigt sie zu häufig mehr Gefühle als für rationale Transaktionen gesund wäre. Dieser innere Konflikt ist sehr gut gelungen.

Das Ende lässt dann aber leider ein wenig zu Wünschen übrig. Katherine sieht sich unfähig zwischen der Liebe zu ihren Freunden und ihrer Familie zu entscheiden. Sie sehnt sich daher nach einem Elixier, das das Altern aufhält, wodurch sie ewig zwischen beiden Welten pendeln könnte. Ihre Freundin auf dem Goblin Markt ist skeptisch, führt sie letztlich aber zur Archivarin, um das Elixier zu erhalten. Die Archivarin warnt ebenfalls vor der Einnahme, händigt es Katherine letztlich aber aus. Katherine verwandelt sich für immer in eine 6-jährige zurück. Doch damit hat sie gegen eine elementare Regel des Goblin Marktes verstoßen (die sie längst vergessen hatte) und wird für immer verbannt. Dieses Ende ist aus dem ersten Teil der Reihe bereits bekannt. Es bleibt jedoch unklar, warum Katherines Freundin, die den Regelverstoß kannte, dazu hinreißen lässt, Katherine zu dem Elixier zu führen. Dies geschieht zudem just als Katherines Verhältnis zu ihrer Familie näher beleuchtet wird. Das reißt aber nach ihrer Verwandlung abrubt ab, der Novelle enthüllt nicht, ob Katherine den gerade wieder mühsam aufgebauten Kontakt zu ihrer Schwester und ihrem Vater halten kann und ob sie durch ihre radikale Entscheidung zumindest den Respekt und das Verständnis ihrer Familie wiedererlangt hat.

Trotz allem ist „In an Absent Dream“ der stärkste Teil der Reihe seit dem Auftakt. Anders als „Unter einem roten Mond“ sind die Figuren nicht heillos überzeichnet. Und anders als in „Beneath the Sugar Sky“ irrt die Handlung nicht zwischen so vielen phantastischen Welten, dass kein Platz mehr für Emotionen bleibt. Der Fokus auf Katherine Lundy allein, die subtil und überzeugenden Widersprüche des Goblin Markts und die Unvereinbarkeit zwischen Katherines Freundeskreis und ihrer Familie machen die Novelle zu einer spannenden, berührenden und aufgrund des in der Reihe immer präsenten Themas der Unangepasstheit und ihrer Konsequenzen nachdenklichen Lektüre.

Die Novelle „In an Absent Dream“ von Seanan McGuire ist für den Hugo Award 2020 in der Kategorie „Best Novella“ nominiert.

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