What Gentle Women Dare (von Kelly Robson)

Lolly hält sich als Prostituierte im Liverpool des Jahres 1763 über Wasser. Täglich arbeitet sie hart, um zumindest die Miete für sich und ihre Tochter Meg sowie einige Lebensmittelabfälle reicherer Leute leisten zu können. Meg begleitet sie dabei auf Schritt und Tritt. Eines Tages wird eine vermeintliche Leiche an Land gespült. Lolly erkennt rasch, dass die Person noch am Leben sein könnte, tut aber so als gehe sie von einem Todesfall aus und nimmt das Gewand der Frau an sich. Als sie und Meg am nächsten Tag zu ihrer Arbeit gehen, treffen sie auf die vermeintliche Leiche. Es stellt sich heraus, dass die aus dem Wasser gezogene Frau von einer Art Teufel besessen ist. Dieser wünscht eine Unterhaltung mit Lolly, die diese sich gut bezahlen lässt. Das Gespräch kommt schnell auf die Frage, warum die Gesellschaft von Gewalt dominiert ist. Lolly findet dabei langsam die Position, dass ungleicher Wohlstand zwar Gewalt produziert, dass männliche Gewalt jedoch deutlich agressiver und gefährlicher ist als weibliche Gewalt. Vor Augen schwebt ihr eine Szene, in der ein Mann Meg so auf die Straße gestoßen hat, dass diese bei einem Unfall starb. Die Meg, die sie begleitet, ist also lediglich eine Illusion. Daher bejaht Lolly nach einigem Nachdenken die Frage, ob die Welt weniger gewalttätig wäre, wenn alle Männer getötet würden. Die Frage ist schließlich hypothetisch. Doch dann enthüllt der Teufel, dass sie die 900. Frau in Folge ist, die diese Frage bejahe und dass man nun herausfinden würde, ob die Vermutung stimmt.

Lolly ist ein gelungener Charakter, der eine interessante Erzählperspektive bietet. Die Geschichte beginnt mit ihrer Entscheidung, das Gewand zu stehlen. Der Text enthüllt ihren inneren Zwiespalt und wie sie sich letztlich für den Diebstahl entscheidet. Die Tat ist eigentlich schrecklich. Lolly stiehlt, um auf lange Sicht zu überleben. In diesem Fall hat die bestohlene Frau aber eine deutlich geringere Lebenserwartung. So beginnt die Geschichte der ja eigentlich sanften Lolly mit einer, wenn auch indirekten Gewalttat. Dennoch baut der Text Sympathie für Lolly auf, indem wir sie als rücksichtsvolle Mutter in ihrem täglichen Kampf ums Überleben erleben. Es fällt von Anfang an als unwahrscheinlich auf, dass Meg die Prostituierte Lolly zur Arbeit begleitet. Dennoch ist die Enthüllung, dass Meg längst gestorben ist, ein Schock. Denn Lollys Mutterliebe, ihre Art ihrer Tochter ein mehr oder weniger sorgenfreies Leben trotz der grassierenden Armut zu ermöglichen, ist sehr berührend und authentisch.

Der unter dem Namen Mary Overholt auftretende Teufel führt zum Höhepunkt der Geschichte. Die Unterhaltung zwischen der ungebildeten und direkten Lolly und der wortgewandten Mary ist faszinierend und packend. Im Gespräch wird schnell deutlich, dass Mary bestimmten Regeln folgen muss. Wenn etwas nach den Gesetzen, denen Lolly folgen muss, richtig ist, dann ist es auch richtig. So ändert sie rasch ihre Meinung und gibt zu, dass der Diebstahl des Gewands eigentlich eine Bergungsaktion war, wenn Lolly davon ausging, dass Mary bereits tod war. Aber auch in ihrer Meinung ist Mary darauf beschränkt, Fragen zu stellen und darf Lolly den Gedanken, alle Männer umzubringen nicht in den Mund legen. Das tut am Ende Meg für Lolly, die in Erinnerung ihres Unfalls deutlich agressiver ist als die ausgebeutete und misshandelte Prostituierte Lolly. Das Spiel Marys mit Lolly ist sehr überzeugend geschrieben und der beste Punkt der Geschichte.

Das Ende der Unterhaltung ist leider etwas weniger überzeugend. Gerade das Thema der Gewalt erscheint am Ende etwas zu pädagogisch kommuniziert. Dass Lolly am Ende tatsächlich fordert, alle Männer umzubringen, erscheint zudem unwahrscheinlich. Bis zu diesem Zeitpunkt wird Lolly als verhältnismäßig sanftmütig dargestellt. Dass sie tatsächlich glaubt, dieser Massenmord würde etwas ändern, ist kaum denkbar. Andererseits entstammt dieser Überlegung aus bitterer Erfahrung und einer ausgewogenen Diskussion über die unterschiedlichen Arten der Gewalt, die verschiedene Geschlechter anwenden. Die eigentliche Motivation der Kurzgeschichte, so will man hoffen, ist ja, aus der eindringlichen und sympathischen Perspektive Lollys den Leser anzuregen, darüber nachzudenken, was es braucht, damit niemand mehr von gerade angespülten, dem Tode nahen Menschen stehlen muss. Und was es braucht, dass niemand mehr darüber nachdenkt, ob die Welt ohne die Präsenz von Männern nicht ein besserer Ort wäre.

Die Kurzgeschichte „What Gentle Women Dare“ von Kelly Robson ist 2018 im Uncanny-Magazin erschienen. Sie ist außerdem ein Beitrag in der Anthologie „The Best American Science Fiction and Fantasy 2019“, herausgegeben von Carmen Maria Machado und John Joseph Adam.

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