Middlegame (von Seanan McGuire)

Asphodel Baker ist eine begabte Alchimistin und plant die Welt zu verändern. Doch von ihren Kollegen wird die junge, ambitionierte Frau nicht respektiert. Das regt ihr Geschöpf, James Reed, auf. Die von Baker geschaffene Gestalt, Frankensteins Monster ähnelnd, bringt seine Schöpferin um und macht sich umgehend daran, ihren großen Plan zu verwirklichen. Doch während Baker die physischen Gesetze aufheben wollte, um der Menschheit zu helfen, plant Reed die Menschheit damit zu unterjochen. Sein Ziel ist es, Kinder zu schaffen, die prädisponiert sind, das Tor zu einem Ort zu öffnen, mit dem er die Relaitivitätsgesetze außer Kraft setzen kann. Die meisten seiner Experimente schlagen fehl, seine Schöpfungen werden entweder aussortiert oder zu brutalen Killern ausgebildet. Roger Middleton und Dodger Cheswich sind ein Duo seiner neuesten Versuchsreihe. Dodger ist ein mathematisches Genie, Roger hat ein Sprachentalent. Langfristig soll Dodger die „Waffe“ werden, um Zeit und Raum zu überwinden und Roger der „Auslöser“, der Dodger befiehlt für Reed die Welt zu verändern. Doch etwas geht schief. Die wegen ihrer Talente einsamen Kinder stellen eine telepathische Verbindung zueinander her. Sie halten sich zunächst für eingebildete Freunde, die ihnen zufällig bei ihren Mathe- bzw. Sprachhausaufgaben helfen können. Über die Jahre (und vielen einander zugefügten Verletzungen) merken sie, dass mehr dahinter steckt. Und bald stehen sie vor einem temporalen und phantastischen Konflikt, in dem es ihnen obliegt, die Welt zu retten.

„Middlegame“ ist ein grandioser Mix verschiedener Motive. Der Roman beginnt mit Horror-Elementen: Reed verdrängt seine Erschafferin, indem er sie umbringt. Bald tauchen durch die Verbindung von Dodger und Roger phantastische Elemente auf, die ab der zweiten Hälfte mit den auf Dodgers Berechnungen beruhenden Zeitsprüngen um Science Fiction-Elemente ergänzt wird. Im Kern ist „Middlegame“ aber eine Coming-of-Age-Geschichte. Jedes dieser Elemente funktioniert für sich und zusammen bilden sie einen pfiffigen, spannenden und berührenden Roman.

Dodger und Roger haben beide einzigartige Begabungen und sind in ihrer Kindheit und Jugend gerade deswegen ganz allein. Ihnen ist ein bestimmter Platz in der Welt zugedacht und ihr Umfeld ist dazu geschaffen, jede eigenständige Entwicklung der beiden zu verhindern. „Middlegame“ beschreibt die einzigartige Entwicklung, die den beiden dennoch gelingt. Dodger und Rogers Verbindung ähnelt einem permanenten Telefonat. Bereits Kinder entwickeln sie Regeln, durch die sie Distanz erhalten und gleichzeitig einander zentrale Rollen im Leben des jeweilig anderen zugestehen. Die Phasen des glücklichen, geschwisterlichen Zusammenseins werden immer wieder unterbrochen. Wann immer Reed und seine Schergen einen Verbindungsweg der beiden entdecken, unterbrechen sie ihn brutal. Das hinterlässt Spuren und Traumate in beider Leben, da Roger und Dodger emotional aufeinander angewiesen sind. Beide Charaktere wachsen vor den Augen der Leser auf und entwickeln sich zu komplizierten, melancholischen und dennoch handlungsfreudigen Charakteren. Ihre Verbindung wird immer komplizierter, vor allem als sie erfahren, dass sie die einzige Hoffnung auf Rettung der Menschheit vor einem allmächtigen Reed sind. Besonders gelungen sind die kleinen Schritte zur Erkenntnis, dass sie künstlich geschaffen wurden. Der Leser weiß dies längst und dennoch erzählt McGuire diesen Erkenntnisprozess spannend und mitreißend. Roger und Dodger zeigen wie wichtig und folgenreich es ist, für ein selbstbestimmtes Leben zu kämpfen, selbst wenn alle Bezugspersonen im Umfeld daran arbeiten, diesen Lebensweg kompeltt zu bestimmen.

Ähnlich gelungen und kompliziert ist der dritte zentrale Charakter des Romans, Erin. Sie ist ein Teil eines misslungenen Zwillingsexperiments Reeds, ihr Bruder kam im Auftrag Reeds ums Leben . Sie ist nur noch am Leben, weil sie (oft mörderische) Aufträge für Reed erfüllt. Reed ahnt nicht, dass Erin auf Rache sinnt. Ihre Motive sind ausgesprochen schwierig einzuschätzen, ihre Szenen im Roman immer stark. Nur durch sie gelingt es Dodger und Roger durch das Dickicht der Lügen zur Wahrheit zu finden. Sie ist zudem die einzige, die sich an Teile der überlagernden Zeitlinien erinnern kann. Erin ist besonders interessant, da man sich ihrer Motive nie ganz sicher sein kann. Im Laufe des Romans stellt sie sich jedoch als die Person heraus, die in dem Kampf gegen Reed die schmerzlichsten Opfer bringt und hinter der kühlen Fassade einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn entwickelt hat. Dadurch wird sie zu einem weiteren vielschichtigen Charakter, der sich von seiner Bestimmung löst und im Laufe des Romans ein eigenes Weltbild entwickelt.

Die Bösewichte sind schlicht böse. An ihnen gibt es wenig Facetten. Reeds Handlanger lieben das Morden oder sind arme, erpresste Knilche. Reed selbst erscheint gegenüber den Alchemisten, deren Gilde er mit wilden Versprechungen auf seine zieht, etwas ambivalent. Hier meint man beinahe, es ginge ihm tatsächlich das Leben aller Menschen zu verbessern. Leider gibt es gleich nach den Gesprächen mit den Alchemisten in der Regel Szenen, in denen man Reed bei seinen tatsächlichen Plänen verfolgt. Dadurch ist rasch klar, dass es Reed nicht um das Erbe seiner Erschafferin geht, sondern ausschließlich um seinen eigenen Einfluss. Angesichts der überzeugenden „Helden“ des Romans und seiner cleveren Struktur bedarf es aber auch gar keiner vielschichtigen Bösewichte. Reed und seine Diener bringen Spannung und Tempo und machen die Handlung um die gelungenen Charaktermomente dadurch zum Thriller.

Darüber hinaus stimmt Seanan McGuires hier geschaffene Welt bis ins kleinste, überzeugende Detailbeobachtungen. Ihr gelingt es die Interaktion zwischen Roger und seiner (im Auftrag Reeds) handelnden Adoptivmutter genau so übezeugend zu schildern, wie den emotionalen Schock Rogers und Dodgers nachdem sie versehentlich eine Naturkatastrophe ausgelöst haben. Vor allem diese immer treffenden und bewegenden Beschreibungen menschlicher Begegnungen runden den überzeugenden inhatllichen Mix des Romans ab und machen „Middlegame“ zu einer spannenden Lektüre, deren starke Entwicklung ihrer Charaktere noch eine Weile nachwirkt.

„Middlegame“ ist für den Hugo Award 2020 in der Kategorie „Best Novel“ nominiert.

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