The Best American Science Fiction and Fantasy 2018 (von N. K. Jemisin & John Joseph Adams)
|Wie im Vorjahr, habe ich auch dieses Jahr wieder die Anthologie „The Best American Science Fiction and Fantasy 2018“ mit Freuden gelesen. Die im Oktober letzten Jahres erschienene Anthologie, herausgegeben von der Erfolgsautorin N. K. Jemisin und dem permanenten und routinierten Herausgeber John Joseph Adams präsentiert jeweils zehn der besten zehn Fantasy und Science Fiction Kurzgeschichten aus dem Jahr 2017. Das liegt mittlerweile bereits etwa zwei Jahre zurück, meine Kurzgeschichtenrezensionen haben für die zweite Staffel „Discovery“ für eine Weile pausiert. Die neue Anthologie ist vor einem Monat erschienen. Mit Rezensionen zu ihren Kurzgeschichten geht es auf diesem Blog am traditionellen Kurzgeschichtenmontag in der kommenden Woche weiter. Dieser Beitrag blickt nun noch einmal auf die 20 Kurzgeschichten der 2018er-Anthologie zurück, die ich im vergangenen Jahr gelesen und bewertet habe. Wie jedes Jahr muss im Vorfeld erwähnt werden, dass ich generell deutlich mehr Science Fiction als Fantasy lese. Daher ist es für mich immer interessant, was die Reihe „The Best American Science Fiction and Fantasy“ im Bereich der Fantasy präsentiert. Allerdings kommt es häufiger vor, dass Fantasy-Motive meinem Geschmack weniger zusagen als Science Fiction Themen.
Ein großes Thema unter den (hauptsächlich) Science Fiction Erzählungen ist Verantwortung. Es beginnt mit der Frage einer jungen Superheldin, deren Kräfte dafür gesorgt haben, dass jeder Mensch, der ihr etwas bedeutet sie vergisst: In Destroy the City with Me Tonight stellt Kate Alice Marshall ihre Protagonistin vor die Frage, ob sie ein Leben in Freiheit und Anerkennung leben möchte, indem sie die Stadt, die sie beschützen soll zerstört, oder ob sie ihrer Aufgabe nachkommt, in Vergessenheit lebt und zudem noch ihren Liebhaber tötet. Eine wahre Superheldin entscheidet sich natürlich schweren Herzens dafür, ihrer Verantwortung nachzukommen. In Brightened Star, Ascending Dawn lässt A. Merc Rustad seine Heldin, ein Raumschiff mit dem Namen der Kurzgeschichte, alle ihre Befehle ignorieren, um wenigstens ein paar hundert Menschen von einem Planeten zu retten, der von ihren Vorgesetzten in einer Vergeltungsaktion ausgelöscht wird. Diese gleichzeitig schaurige wie aufbauende Geschichte erzählt von dem Gewissen, das ein Raumschiff und seine Besatzung, inspiriert durch ein kleines Mädchen, im Angesicht einer absoluten Terrorherrschaft in selbstaufopfernde Taten umsetzen. In der umfangreichen Kurzgeschichte ZeroS beschreibt Peter Watts einen Zombie-Soldaten, der Teil eines geheimen, eben mit toten Soldaten experimentierenden Projekts des Militärs ist und mit der Zeit und angesichts seiner hauptsächlich jugendlichen Opfer Gewissensbisse bekommt. Es stellt sich jedoch heraus, dass eine außerirdische Schwarmintelligenz gezielt Kinder züchtet, um die Menschheit zu unterwandern. Watts lässt den Leser immer mehr daran zweifeln, was eigentlich der moralisch richtige Weg in der immer vertrackteren Situation ist. Und zuletzt bringt Maureen McHugh ihre Protagonistinnen in eine dystopische Zukunft in der eine chinesische Waffe eine Krankheit freigesetzt hat, die fast alle Menschen ausgelöscht hat. Der klägliche Rest kämpft mit aller Härte um die verbliebenen Medikamente. In einer Forschersiedlung entscheidet man sich in Cannibal Acts dafür, die eigene Überlebenschancen zu erhöhen, indem man die Toten ist. Die Verantwortung gegenüber Toten wie gegenüber Lebenden wird hier einfühlsam an einem Paar erzählt, in dem sich eine Partnerin weigert tote Menschen zu essen und die andere genau diese Toten präpariert. Unter den Fantasy-Geschichten bearbeitet Carnival Nine von Caroline M Yoachim das Thema familiärer Verantwortung in einer beeindruckenden Gesellschaft von Aufziehspielzeugen.
Angesichts der immer konfrontativeren Weltlage ist es wenig verwunderlich, dass auch das Thema Macht in den Kurzgeschichten eine große Rolle spielt. In Rivers Run Free erlebt der Leser eine Verfolgungsjagd aus der Feder Charles Payseurs, in der eine Gruppe von Flüssen auf der Flucht vor ihren Peinigern ist. Die einzigartige Flussperspektive ist sehr gut getroffen und auch wenn es der Erzählung etwas an Hanldung mangelt, fühlt man jede Umweltverschmutzung und Begradigung, die irdischen Flüssen angetan wurde. In Justice Systems in Quantum Parallel Probabilities denkt Lettie Prell über verschiedene Arten der Bestrafung in verschiedenen Dimensionen nach und illustriert so, wie Gefängnisse immer auch ein Spiegel ihrer Gesellschaft und ihrer Machtverhältnisse sind. Der Spruch „Die Revolution frisst ihre Kinder“ wird von Rachael K. Jones in The Greatest One-Star Restaurant in the Whole Quadrant brutal und faszinierend dargestellt. Eine Gruppe Cyborgs hat endlich das Joch menschlicher Knechtschaft abgeworfen, muss sich jedoch für eine Weile als Betreiber eines Restaurantfrachters ausgeben, um nicht entdeckt zu werden. Der verrückte Ingenieur des Schiffes beginnt die immobilen übrigen Cyborgs um ihrer organischen Teile zu entledigen und bringt sie in seinem Wahn nach und nach um. Das ist die Basis für eine fesselnde Geschichte über die Notwendigkeit von Kontrollen gegen Machtmissbrauch. Wozu absolute Macht führen kann, beschreibt Gwendolyn Clare in Tasting Notes on the Varietals of the Southern Coast. Hier reist ein Mundschenk durch ein sterbendes Land: Der König hat einen Virus entwickeln lassen, der alle Menschen tötet, damit er an die besonderen Weine der Region gelangen kann. Auch in diesem Horrorszenario spielt Verantwortung eine Rolle. Der Magier, der den Virus geschaffen hat, sieht in den Toten seine eigene Familie und erträgt seine Schuld nicht länger. Immerhin hat der König seine Weine. Charlie Jane Anders beschreibt in Don’t Press Charges and I Won’t Sue wie eine konservative Organisation all ihre Macht ausnutzt, um transsexuelle Menschen in die „richtige“ Richtung umzumodelieren: Die Ärzte glauben, dass Transsexuelle im richtigen Körper wieder Spaß an ihrem angeborenen Geschlecht haben werden und klonen ihnen daher Astralkörper, um deren Geist dahin umzupflanzen. Die beklemmende Geschichte endet im Absurden, entfaltet ihre freiheitsorientierte Botschaft aber gerade durch die Mischung aus Horror und Absurdität. Macht kann auch durch Untätigkeit und Vorurteile ausgeübt werden. E. Lily Yu zeigt dies in der Geschichte The Wretched and the Beautiful, einer Allegorie auf die Flüchtlingskrise des Jahres 2015. Aus einer verhältnismäßig wohlhabenden Perspektive wird hier einmal auf arme und einmal auf reiche Gäste gesehen, mit verstörenden und letztlich vermutlich tödlichen Konsequenzen. Zuletzt vermischt Tobias S. Buckell die Frage von Verantwortung und Macht in der wunderbaren Kurzgeschichte Zen and the Art of Starship Maintenance indem er einen Wartungsroboter an Bord eines Raumschiffes einen roboterfeindlichen, brutalen Menschen nach allen Regeln der Kunst austricksen lässt und dabei gleichzeitig über Freiheit, Geld und das wirkliche Leben diskutieren lässt.
Vor allem unter den Fantasy-Geschichten rangieren zudem viele sehr introspektive Erzählungen, die Einsamkeit und Unsicherheiten in den Mittelpunkt stellen. Einen sehr starken Auftakt macht hier Kathleen Kayembes You Will Always Have Family: A Triptych, in dem eine junge Frau auf die Spuren einer Familientragödie mit zwei extremen Opfern kommt. Wie schwer es langlebige Fabelwesen haben erzählt Cadwell Turnbull in Loneliness Is in Your Blood. Als einzige Science Fiction Story in diesem Bereich tritt The Hermit of Houston auf. In diesem Zukunftsentwurf Samuel R. Delanys sind Männer und Frauen weltweit weitestgehend getrennt, um der Überbevölkerung entgegen zu treten. Der Protagonist der Geschichte findet zwar Liebe und ist somit keineswegs einsam. Doch der Sinn der Gesellschaft erschließt sich ihm so wenig wie den meisten seiner anderen Mitbürger. Diese Ziellosigkeit kann auch durch Informationen der über mehr Informationen verfügenden Hermits nicht aufgebrochen werden. The Last Cheng Beng Gift begleitet ein Matriarchin auf ihrem Weg von dem Vorhof des Jenseits ins Jenseits. Auf diesem Weg muss die Dame noch ihren Frieden mit ihrer Tochter machen – wobei unklar bleibt, ob ihre Tochter damit auch Frieden mit ihr schließen kann. In ein Schriftstellercamp in der Wildnis verschlägt es die Protagonistin von Carmen Maria Machados The Resident. Allein unter Künstlern kommen Kindheitstraume wieder hoch, zusammen mit vielen Selbstzweifeln am aktuellen Buchprojekt. Micah Dean Hicks schreibt in Church of Birds ein Grimm-Märchen fort und versieht es mit einem letztlich doch nicht glücklichen Happy-End. Abschließend erforschen zwei Beiträge von Maria Dahvana Headley (The Orange Tree und Black Powder) welche kreative und zerstörerische Kraft Einsamkeit erschaffen kann und welche fatalen Auswirkungen Wünsche auf einsame Menschen haben können.
You Will Always Have Family: A Triptych (von Kathleen Kayembe) und Carnival Nine (von Caroline M. Yoachim) sind grandiose Fantasy-Geschichten, fesseln von Anfang bis zum Ende und hinterlassen einen bleibenden Eindruck. Rivers Run Free (von Charles Payseur) und The Resident (von Carmen Maria Machado) sind atmosphärisch sehr stark, aber auch ereignisarm. The Resident übertreibt es bereits in der dargestellten Ziellosigkeit. Noch stärker ist dies bei den literarisch ausgerichteten Beiträgen von Maria Dahvana Headley der Fall (The Orange Tree, Black Powder), die ihre Charaktere nur in Ausschnitten zeichnet und den Leser vor allem Gefühle anstatt Ereignisse präsentiert. Damit konnte ich wenig anfangen. Die übrigen Fantasy-Geschichten Loneliness Is in Your Blood (von Cadwell Turnbull), The Last Cheng Beng Gift (von Jaymee Goh), Tasting Notes on the Varietals of the Southern Coast (von Gwendolyn Clare) und Church of Birds (von Micah Dean Hicks) greifen interessante Themen auf und bringen diese in spannende Formen, hinterlassen aber bei mir weniger bleibende Eindrücke als die Science Fiction-Beiträge. Und so konnten mich auch in diesem Jahr die Fantasy-Beiträge weniger fesseln. Grandios sind im Science Fiction-Bereich Destroy the City with Me Tonight (Kate Alice Marshall), The Greatest One-Star Restaurant in the Whole Quadrant (von Rachael K. Jones) und Zen and the Art of Starship Maintenance (von Tobias S. Buckell). Mit Don’t Press Charges and I Won’t Sue (Charlie Jane Anders), The Wretched and the Beautiful (E. Lily Yu), Brightened Star, Ascending Dawn (von A. Merc Rustad) und Cannibal Acts (von Maureen McHugh) sind auch die Plätze nach meinen drei Favoriten ausgesprochen starke Kurzgeschichten. Selbst die drei in meinen Augen schwächsten Beiträge, Justice Systems in Quantum Parallel Probabilities (von Lettie Prell), The Hermit of Houston (von Samuel R. Delany) und ZeroS (von Peter Watts) – alle drei versuchen ebenfalls nahe an eine Erzählstimme zu kommen, ohne diese dem Leser wirklich erfolgreich ans Herz zu legen – geben interessante Denkanstöße und hinterlassen bleibende Bilder und Eindrücke.
Alles in allem präsentieren die 20 Beiträge dieser jährlichen Anthologie aber hinter den Fragen nach Macht, Verantwortung und natürlich den großen Gefühlen Einsamkeit, Liebe und Unsicherheit viele verschiedene Welten, Herausforderungen und Hoffnungen. Das macht die Lektüre wieder einmal unterhaltsam, faszinierend und hinterlässt wieder viele Eindrücke und Gedankenanstöße.
Nr. | Titel | Autor | Publikation |
1 | Rivers Run Free | Charles Payseur | Beneath Ceaseless Skies |
2 | Destroy the City with Me Tonight | Kate Alice Marshall | Behind the Mask |
3 | You Will Always Have Family: A Triptych | Kathleen Kayembe | Nightmare Magazine |
4 | Justice Systems in Quantum Parallel Probabilities | Lettie Prell | Clarkesworld Magazine |
5 | Loneliness Is in Your Blood | Cadwell Turnbull | Nightmare Magazine |
6 | The Hermit of Houston | Samuel R. Delany | The Magazine of Fantasy & Science Fiction |
7 | The Last Cheng Beng Gift | Jaymee Goh | Lightspeed Magazine |
8 | Brightened Star, Ascending Dawn | A. Merc Rustad | Humans Wanted |
9 | The Resident | Carmen Maria Machado | Her Body and Other Parts |
10 | The Greatest One-Star Restaurant in the Whole Quadrant | Rachael K. Jones | Lightspeed Magazine |
11 | Tasting Notes on the Varietals of the Southern Coast | Gwendolyn Clare | The Magazine of Fantasy & Science Fiction |
12 | Don’t Press Charges and I Won’t Sue | Charlie Jane Anders | Boston Review: Global Dystopias |
13 | Church of Birds | Micah Dean Hicks | Kenyon Review |
14 | ZeroS | Peter Watts | Infinity Wars |
15 | Carnival Nine | Caroline M. Yoachim | Beneath Ceaseless Skies |
16 | The Wretched and the Beautiful | E. Lily Yu | Terraform |
17 | The Orange Tree | Maria Dahvana Headley | The Weight of Words |
18 | Cannibal Acts | Maureen McHugh | Boston Review: Global Dystopias |
19 | Black Powder | Maria Dahvana Headley | The Djinn Falls in Love |
20 | Zen and the Art of Starship Maintenance | Tobias S. Buckell | Cosmic Powers |