Don’t Press Charges and I Won’t Sue (von Charlie Jane Anders)

Rachel erwacht in einem grausamen Krankenhaus. Die Transgender Frau und ihre Seele sollen in einen „perfekten“ männlichen Körper transfeiert werden. Von der Regierung unterstützt hofft die Organisation, die Rachel entführt hat, dass sie in einem „normalen“ Körper, mit dem sie zufrieden sein „muss“, „endlich“ ihr Glück finden soll. Die Wohltätigkeitsorganisation ist das Spiegelbild einer reichlich konservativen Gesellschaft. Dennoch hat die Organisation Schwierigkeiten, Personal zu finden. James jedoch braucht das Geld, um seine kranke Mutter zu unterstützen. So hat er es mittlerweile zum Manager der Station gebracht. In seiner Jugend jedoch war Rachel sein bester Freund. Seine Bitte darum, zumindest von diesem Fall abgezogen zu werden, wird aufgrund der Personalknappheit nicht gewährt. Er hat jedoch das strikte Verbot mit Rachel – die sowieso nur noch durch ihren neuen Körper sprechen kann – zu kommunizieren. Am Ende hält er es nicht mehr aus und eröffnet Rachel, was mit ihr geschehen wird und dass sie sich danach sicher besser fühlen werde. Rachel ist von diesem Identitätsverlust schockiert, entreißt James seine Werkzeuge und ersticht ihn. Auf ihrer Flucht merkt sie, wie sie von ihrem neuen Körper, der unter anderem bereits über ihr Sprachorgan verfügt mit ihren Schreien verfolgt wird. Auswegslos plant sie einen Fluchtplan, der sie durchaus das Leben kosten könnte.

Wie treibt eine Gesellschaft Andersdenkende und -handelnde in den Abgrund bzw. potentiell in den Selbstmord? Rachel sieht menschliches Zusammenleben bereits zynisch. Während James die Parolen seiner Organisation glaubt und immer wieder wiederholt, dass Selbstrespekt der Schlüssel für gegenseitigen Respekt sei, glaubt Rachel nicht daran, dass Menschen einander Gutes tun. Das Potential zur gegenseitigen Zerstörung ist in ihren Augen das Einzige, was Menschen davon abhält aufeinander los zu gehen: Wenn Du nicht klagst, so werde ich nicht klagen. Genau auf diese gegenseitige Zerstörung läuft die Kurzgeschichte hinaus: Rachels Identität steht vor dem aus, sie wird in einem Astralkörper gefangen sein, der nicht der ihre ist und mit dem sie sich nicht identifizieren kann. Besonders gelungen sind hier die unterschiedlichen Perspektiven. Rachel hat das Gefühl neben einer Leiche zu liegen. Für James ist Rachels Körper nach all seinen Operationen hingegen bereits eine Leiche. Diese beiden Weltbilder sind miteinander nicht vereinbar und so muss es zur Katastrophe kommen. Für Rachel bleibt am Ende keine Wahl, als die Drohung der gegenseitigen Zerstörung wahr zu machen. Denn ohne sie ist auch ihre ungewollte, heterosexuelle Zukunft nicht mehr möglich.

Die Geschichte liest sich beklemmend. Die dystopische Anlage lernt man in erster Linie aus James euphemistischer Perspektive kennen. Dennoch wird mit jeder Seite deutlicher, dass es unmöglich ist, sich die Arbeit in dieser Horroranstalt schön zu reden. James ist ein zwiespältiger Charakter. Von seiner Mutter ignoriert und oft hinter andere angestellt, versucht er, sie zumindest in ihren letzten Jahren noch zu pflegen. An die Zeit mit Rachel hat er durchaus positive Erinnerungen. Dennoch bringt er es nicht über sich, in seiner Geldnot seinen Job an den Nagel zu hängen oder zumindest seiner alten Freundin zu helfen. Im Hintergrund erfährt der Leser auch davon, dass James und Rachel einst mit demselben lesbischen Mädchen in Kontakt standen. James hat die Zurückweisung nicht verkraftet und das Leben des Mädchen letztlich durch heimlich aufgenommene Nacktbilder zerstört. Hinter der Fassade des die Arbeit, die sich ihm bietet annehmenden Menschen stecken all die konservativen und toxischen Einstellungen, die auch hinter der Fassade der Menschen umoperierenden Wohltätigkeitsorganisation stehen. Dadurch werden James Selbstrechtfertigungen im Laufe der Geschichte immer unglaubwürdiger: Letztlich teilen die Unterstützer brutaler und ausgrenzender System doch die darunter liegenden Werte.

Die doppelte Perspektive des Täters und des Opfers, die gelungen eingearbeitete „Coming-of-Age“-Geschichten sowie die Erinnerungen an die durchaus auch heiteren Momente eines queeren Lebens in einer intoleranten Gesellschaft machen diese beklemmende Geschichte dramatisch und spannend. Am Ende ist der Drang die eigene Identität auszuleben in dieser Erzählung größer als die Aussicht zumindest am Leben zu bleiben. Dieses hier eindringlich geschilderte Gefühl verdeutlicht die Grausamkeit des in vielen Teilen der Welt noch immer üblichen Zwangs sich auf das angeborene Geschlecht festzulegen.

Die Kurzgeschichte „Don’t Press Charges and I Won’t Sue“ von Charlie Jane Anders ist 2017 in der Sonderausgabe der „Boston Review“ zum Thema „Global Dystopias“ erschienen. Sie ist außerdem ein Beitrag in der Anthologie „The Best American Science Fiction and Fantasy 2018“, herausgegeben von N.K. Jemisin und John Joseph Adam.

One Comment

Add a Comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert