Gedanken zur Kategorie „Beste Kurzgeschichte“ der Hugo Awards 2020

Ende des Monats werden die Hugo-Awards für das Jahr 2020 verliehen. Die Hugos sind einer der wichtigsten Science Fiction und Fantasy Preise. Abstimmen können alle TeilnehmerInnen der jährlich stattfindenden World Con sowie Unterstützungsmitglieder. Auch in diesem Jahr habe ich mich wieder für die Abstimmung angemeldet, wodurch man Zugang zu den meisten nominierten Werken erhält. Ärgerlicherweise habe ich es zwar geschafft mich durch die vier Kategorien, bei denen ich abstimmen wollte, zu lesen, habe mich dann aber bei der Abstimmungsfrist am 22. Juli um einen Tag verschätzt. In diesem Jahr gibt es daher nur Listen mit der Reihenfolge, in der ich abgestimmt hätte und Links zu den kompletten Rezensionen. Den Anfang machen die nominierten Kurzgeschichten, die dieses Jahr alle in verschiedener Form die Themen Herkunft und Familie/Gemeinschaft aufgreifen. Das passiert auf eine vielfältige Art, die einem Science Fiction und Fantasy-Preis mehr als würdig ist.

6. Ten Excerpts From an Annotated Bibliography on the Cannibal Women of Ratnabar Island (von Nibedita Sen)

Die titelgebenden zehn Ausschnitte erzählen eine Geschichte zwischen einem gänzlich misslungenen Kontakt zwischen westlichen Kolonialisten und der kannibalischen Bevölkerung einer Insel. Nachdem den Kolonialisten Menschenfleisch angeboten wird, bringen sie umgehend die komplette Inselgesellschaft um und transportieren nur zwei Frauen nach London. Hier fühlen sich die beiden von Menschenfleisch angezogen, es kommt zu einer Tragödie, die sich noch auf die Nachkommen weiterer Generationen auswirkt. Die Themen und Handlung der Geschichte sind sehr interessant. Die Form der zehn Ausschnitte aus wissenschaftlichen Werken und Biographien wirkt jedoch etwas abschreckend und erschwert es, einen emotionalen Zugang zu der eigentlich hoch bewegenden Handlung zu finden.

5. Do Not Look Back, My Lion (von Alix E. Harrow)

Eefa hat viele Kinder für ihre Frau aufgezogen, die jedoch allesamt im ständig währenden Krieg als Kanonenfutter verbrannt werden. Daher entscheidet sie sich mit ihrem jüngsten Kind zu fliehen. Von ihrer Frau zunächst aufgehalten, rät ihre Partnerin ihr nach dem Verlust eines weiteren Kindes nicht nur zur Flucht, sondern deckt diese noch. Die Kurzgeschichte lebt von dem mit sehr wenigen Worten sehr gelungen inszenierten stummen Konflikt zwischen Eefa und ihrer Frau. Das familiäre Leid über den Verlust Gefallener wir dadurch nachfühlbar. Die eigentlich Handlung der Erzählung verwirrt jedoch ein wenig, es ist unter anderem völlig unklar, wohin Eefa eigentlich fliehen soll. Die emotionale Stärke der Kurzgeschichte wird nicht durch eine ebenso starke Handlung getragen.

4. A Catalog of Storms (von Fran Wilde)

In einem Phantasy-Setting verarbeitet Sila die Entfremdung ihrer älteren Schwester Lillit. Lillit beschützt das Dorf, indem sie gegen Naturgewalten wie Stürme ankämpft. Es ist eine entbehrungsreiche Aufgabe, die sie letztlich auszehren wird. Nur bestimmte Jugendliche mit besonderen Gaben können diese Aufgabe, die gleichzeitig Ehre und Fluch ist, erfüllen. Sila fürchtet, dass sie diese Gabe ebenfalls entwickeln wird und bereitet sich mental bereits schicksalsergeben auf eine Zukunft im Dienste der Gemeinschaft vor. Während Silas Perspektive auf die Ereignisse aufgrund ihrer Unschärfen sehr gelungen sind, ist die Handlung viel zu verwirrend, um wirklich zu beeindrucken. Es wird nie ganz klar, was die erst jüngst entstandenen Stürme verursacht, was es mit dem Kampf gegen sie wirklich auf sich hat und worin die Gabe einiger weniger Teenager liegt. Kurzgeschichten leben von ihrer Offenheit, „A Catalog of Storms“ lebt hauptsächlich von der gelungenen Perspektive Silas.

3. Blood Is Another Word for Hunger (von Rivers Solomon)

Im Amerikanischen Bürgerkrieg tötet die Sklavin Sully die Familie, der sie gehört. Daraufhin gebärt sie erwachsene Menschen, die von Sklavenhaltern und anderen Bösewichten umgebracht wurden. Nach anfänglichem Widerstand tritt schaffen sie eine neue Gemeinschaft, in der Sully Frieden findet. Das Setting ist dramatisch und verstörend. Der Kampf der einstigen Opfer gegen ihre Bedränger ist kompromisslos und dennoch geht es in erster Linie darum, Frieden und Erlösung zu finden. Diese Ansammlung an widersprüchlichen Emotionen und Handlungen ist stark, nachdenklich und bewegend. Da stört es kaum, dass Sullys Besitzer eigentlich viel früher vermisst werden müssten und das Militär viel früher anrücken müsste.

2. And Now His Lordship is Laughing (von Shiv Ramdas)

Während in der bengalischen Hungersnot hunderttausende sterben, drängt es den Gouverneur eines Gebietes vor allem nach einer faszinierenden Puppe für seine Gemahlin. Doch die einzige alte Dame, die diese Puppe herstellen kann, sinnt auf Rache für das Leid, das ihrem Volk angetan wurde. Die Kurzgeschichte ist brutal und zynisch. Sie ist aber auch extrem spannend und bewegend. Ramdas gelingt es, eine Anklageschrift gegen britische (und andere) Kolonialherrschaft und die ihnen inhärente Menschenfeindlichkeit in packende literarische Form zu verwandeln.

1. As the Last I May Know (S. L. Huang)

Nyma trägt die Codes für atomwaffenähnliche Waffen in ihrem Körper. Nur wenn man sie tötet, gelangt man an die Codes. Dadurch sollen die Machthaber den Einsatz dieser Waffen gut überdenken. Doch der Krieg, in den ihr Land verstrickt ist, nimmt keine gute Wendung, der Einsatz der Waffen wird nötig. Ihre Mentoren arbeiten fieberhaft daran, die Codes zu extrahieren, ohne Nyma umbringen zu müssen. Doch Nyma erkennt den Sinn des Systems und wehrt sich dagegen: Wenn viele Menschen sterben müssen, dann nur über ihre Leiche. Die knappe Geschichte Huangs verarbeitet viele Handlungsstränge auf engem Raum. Nyma hat kaum Möglichkeiten, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen und nutzt ihre einzige und erste freie Entscheidung für ein ausgesprochen ungewöhnliches Statement. Die Abwägungen, die alle Charaktere hier treffen, sind komplex und spannend. Dadurch ist die Geschichte nicht nur faszinierend, sondern wirkt noch eine Weile nach.

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