Gedanken zu der Kategorie „Beste Erzählung“ der Hugo Awards 2020

Ende des Monats werden die Hugo-Awards für das Jahr 2020 verliehen. Die Hugos sind einer der wichtigsten Science Fiction und Fantasy Preise. Abstimmen können alle TeilnehmerInnen der jährlich stattfindenden World Con sowie Unterstützungsmitglieder. Auch in diesem Jahr habe ich mich wieder für die Abstimmung angemeldet, wodurch man Zugang zu den meisten nominierten Werken erhält. Ärgerlicherweise habe ich es zwar geschafft mich durch die vier Kategorien, bei denen ich abstimmen wollte, zu lesen, habe mich dann aber bei der Abstimmungsfrist am 22. Juli um einen Tag verschätzt. In diesem Jahr gibt es daher nur Listen mit der Reihenfolge, in der ich abgestimmt hätte und Links zu den kompletten Rezensionen. Nach den Kurzgeschichten sind nun die nominierten Erzählungen an der Reihe. Alle sechs nominierten Werke konzentrieren sich auf eine individuelle Entscheidung: Carroll beschreibt einen Kater, der sich entscheidet, sein Leben in einem Kampf gegen den Teufel zu riskieren. Gailey beschreibt eine Frau, die sich entscheidet permanent ihre Werwolf-Seite auszuleben. Yoachim beschreibt eine Wissenschaftlerin, die sich entscheidet, der Erinnerung an ihren verstorbenen Mann nicht weiter nachzutrauern, sondern an einer besseren Zukunft zu arbeiten. Pinsker beschreibt die Entscheidung einer Autorin mit ihrer dunklen Seite zu leben. Jemisin beschreibt die Entscheidung eines Soldaten, nicht mehr an die Propagandasendungen in seinem Kopf zu glauben, sondern eine Revolution zu planen. Und zuletzt beschreibt Chiang die Entscheidung einer Wissenschaftlerin in einem von Gott geschaffenen Universum ihre eigene menschliche Freiheit stärker zu nutzen. Alle Werke sind dadurch knappe Momentaufnahmen, die spannende Einblicke in essentielle Entscheidungen ermöglichen.

6. For He Can Creep (von Siobhan Carroll)

Der Kater Jeoffrey verteidigt Christopher Smart und die Welt gegen den Teufel. Das ist knapp erzählt, stimmungsvoll inszeniert, aber letztlich weder besonders spannend noch besonders interessant. Vielleicht kann man mit der Erzählung mehr anfangen, wenn man mehr über Christopher Smarts Leben weiß. Das war bei mir nicht der Fall und ich habe nicht wirklich in diese Geschichte gefunden.

5. Away With the Wolves (von Sarah Gailey)

Ein Werwolf wird von ihrer Freundin dazu gedrängt, sich von ihren Gefühlen leiten zu lassen und die meiste Zeit in Wolfsform herumzulaufen. Ihr gelingt es, ein Leben zu arrangieren, indem sie permanent als Wolf unter Menschen leben kann, ohne den Menschen Schaden zuzufügen. Zu ihrer Überraschung wird sie dabei auch noch von der Dorfgemeinschaft akzeptiert. Die Erzählung ist ein starkes Beispiel dafür, wie alternative Lebensumstände selbst in den widrigsten Umständen zu einem glücklichen und akzeptierten Leben führen können. Das ist unterhaltsam. Es ist allerdings etwas zu gradlinig, um wirklich spannend zu sein.

4. The Archronology of Love (von Caroline M. Yoachim)

Saki Jones Mann ist auf einer Kolonie einer Seuche zum Opfer gefallen. Nun soll Saki als leitende Forscherin eines Raumschiffs den Ursprung der Seuche untersuchen. Mithilfe der Chronology und ein wenig Alien-Technologie steuert sie dabei auf eine letzte, abschließende Unterhaltung mit ihrem Mann zu. Die Erzählung schafft eine einzigartige Stimmung und schafft es das Thema der Objektivität angesichts großer emotionaler Schwierigkeiten in Spannung umzuwandeln. Die phantastische Technologie der Erzählung bleibt jedoch etwas wirr, sodass der emotionale Funke nicht so richtig überspringen kann.

3.  The Blur in the Corner of Your Eye (von Sarah Pinsker)

Die Autorin Zanna findet sich in einer ungewöhnlichen Horrorgeschichte wieder. Es stellt sich heraus, dass sie von einem gefährlichen Parasiten besessen ist und ihre mörderischen Streifzüge regelmäßig von ihrer Assistentin und Schulfreundin Shar gedeckt werden. Das ist schaurig und nachdenklich zugleich. Man würde sich jedoch wünschen, dass Zannas ambivalente Gefühle nach der Entdeckung ihrer dunklen Seite etwas mehr Raum in der Erzählung hätten.

2. Emergency Skin (von N. K. Jemisin)

Ein Soldat wird auf die verwüstete Erde geschickt, um Ressourcen für seine Kolonie abzubauen. Dort findet er jedoch eine utopische Gesellschaft vor und muss gegen die Propaganda-Stimmen in seinem Kopf lernen, dass Kapitalismus und Ausbeutung Schwächerer keineswegs Naturgesetze sind. Die Erzählung überzeugt sowohl mit ihrem engagierten Programm als auch mit der sehr interessanten Erzählperspektive: Die Geschichte besteht ausschließlich aus den Stimmen im Kopf des Soldaten sowie den Antworten seiner Gesprächspartner. Seinen Entwicklungsprozess vom loyalen Diener zum angehenden Revolutionär muss sich der Leser selbst rekonstruieren. Das ist ein sehr gelungener Ansatz für eine Geschichte, die Umdenkprozesse erfahrbar machen möchte.

  1. Omphalos (von Ted Chiang)

In einer Welt, in der jede wissenschaftliche Entdeckung einen weiteren Gottesbeweis liefert, muss die Menschheit die Erkenntnis verarbeiten, dass sie wahrscheinlich nur ein Testobjekt für Gottes eigentliche Schöpfung ist. Das ganze ist aus der Perspektive einer Wissenschaftlerin geschrieben, die sich einen kritischen Blick auf die Kirche und ihre Lehre erarbeitet hat und dennoch mit ganzem Herzen an die Existenz Gottes glaubt. Die daraus folgenden Schlussfolgerungen für die menschliche Freiheit im Rahmen eines (nicht mehr ganz so stark vorhandenen) göttlichen Plans sind spannend und interessant. Chiang gelingt es, eine kuriose Welt mit überzeugenden technischen Annahmen und komplexen Emotionen zu verbinden. Das ist die überzeugendste Erzählung unter den sechs nominierten Werken in diesem Jahr.

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