Emergency Skin (von N. K. Jemisin)

Ein Soldat einer menschlichen Kolonie kehrt auf die Erde zurück. Er erwartet einen großen Friedhof, die korrupte Erdgesellschaft hat sich selbst zu Tode gerichtet. Er selbst stammt aus einer Kolonie der Starken und Weisen. Wenn es ihm gelingt, von der Erde dringend benötigte Zellen zurückzubringen, hat er endlich seinen Platz in der Kolonialgesellschaft erkämpft und wird erstmals Haut und damit einen eigenen Körper erhalten. Auf der Erde findet er jedoch eine lebhafte und funktionierende Gesellschaft vor. Die Sitmmen seiner Vorgesetzten in seinem Kopf betonen zwar, dass eine Gesellschaft ohne Reichtum und Chauvinismus nicht funktionieren kann. Doch mit jeder Begegnung auf der Erde wird dem Soldaten klarer, dass er aus einer grausamen Gesellschaft kommt, in der die Mehrheit brutal unterdrückt wird, indem ihr Bewegungsfreiheit und eigene Körper vorenthalten werden. Als er erfährt, dass es neben ihm bereits viele Deserteure gibt, entscheidet er sich zu einem radikalen Schritt: Er wird versuchen, eine Revolution in seiner Heimat anzuzetteln. Als ersten Schritt dazu deaktiviert er das Computerprogramm, das die Stimmen seiner Vorgesetzten simuliert.

Die Erzählung lebt insbesonders von ihrer interessanten Erzählperspektive. Der Leser erfährt alles, was die Gesprächspartner des Soldaten sagen. Man erhält jedoch keinerlei Einblicke in die Antworten des Soldaten oder seine Gedanken. Stattdessen schreibt Jesimin lediglich von den Reaktionen des Computerprogramms, das dem Soldaten eingebaut wurde. Das ist eine interessante Perspektive: Von den Propagandastimmen erfährt man die offizielle Weltsicht der Kolonie, durch die Stimmen der Erdbewohner hingegen die Utopie, die nach dem Exodus der Kolonialisten entstanden ist. Wie der Soldat benötigt man eine Weile, um die Realität in dieser Kurzgeschichte wahrzunehmen und bewerten zu können. Das ist unterhaltsam und pfiffig konstruiert.

„Emergency Skin“ hat aber auch ein ganz klares thematisches Anliegen. Auf engem Raum werden Herkunft, Hautfarbe, Gesellschaftsformen, Ursachen des Klimawandels und Kapitalismus diskutiert. Die reichen Bewohner der Erde konnten ins All fliehen und der Rest hat plötzlich gemerkt, dass ohne die Reichen, ohne die Gierigen und ohne die Skrupellosen eigentlich ganz einfach ist, eine faire Gesellschaft zu errichten. Das ist wohl auch für Freunde der Gesellschaftskritik eine etwas simple Vorstellung. Daher ist es gut, dass es „Emergency Skin“ gar nicht wirklich um den hier gebotenen Gesellschaftsentwurf geht. Der Soldat kann sich die hier gelebte Utopie nicht einmal vorstellen. Die Propaganda wirkt unter anderem deswegen so gut, weil sie an das appelliert, womit sich der Soldat bereits von Kindheitstagen auseinandersetzen muss. Für die Erdbewohner sind Diskriminierung aufgrund von Intelligenz, Hautfarbe oder gar Reichtum völlig absurde Vorstellungen. Für den Soldaten ist das die Realität. Und gerade deswegen ist er skeptisch gegenüber einer Gesellschaftsform eingestellt, die behauptet, all diesen Faktoren keine Bedeutung beizumessen. „Emergency Skin“ zeigt, wie schwierig es ist eine Utopie (und damit im übertragenen Sinne auch einfach nur utopische Ideen) als realistisch zu erkennen, wenn man nur Grausamkeit gewöhnt ist. Und gerade deswegen ist der revolutionäre Wandel am Ende der Erzählung so verständlich: Ist man erst einmal von der Möglichkeit einer Utopie überzeugt, erscheint die Grausamkeit unerträglich und Handeln unerlässlich.

„Emergency Skin“ bindet seine Leser durch die ständige Notwendigkeit, beide Seiten zu hinterfragen, um ein komplex wirkendes Bild zweier letztlich ziemlich eindeutig utopisch bzw. dystopischen Gesellschaften zu erhalten. Diese Verbindung einer interessanten Erzählperspektive mit der Auseinandersetzung, bis zu welchem Grad gesellschaftlicher Wandel überhaupt möglich erscheint, ist unterhaltsam und nachdenklich.

Die Erzählung „Emergency Skin“ von N.K. Jemisin ist 2019 in der Forward-Collection von Amazon erschienen. Sie ist außerdem für den Hugo Award 2020 in der Kategorie „Best Novelette“ nominiert. 

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