Gedanken zu der Kategorie „Beste Novelle“ der Hugo Awards 2020

Ende des Monats werden die Hugo-Awards für das Jahr 2020 verliehen. Die Hugos sind einer der wichtigsten Science Fiction und Fantasy Preise. Abstimmen können alle TeilnehmerInnen der jährlich stattfindenden World Con sowie Unterstützungsmitglieder. Auch in diesem Jahr habe ich mich wieder für die Abstimmung angemeldet, wodurch man Zugang zu den meisten nominierten Werken erhält. Ärgerlicherweise habe ich es zwar geschafft mich durch die vier Kategorien, bei denen ich abstimmen wollte, zu lesen, habe mich dann aber bei der Abstimmungsfrist am 22. Juli um einen Tag verschätzt. In diesem Jahr gibt es daher nur Listen mit der Reihenfolge, in der ich abgestimmt hätte und Links zu den kompletten Rezensionen. An dritter Stelle sind die nominierten Novellen an der Reihe. Diese Kategorie ist in diesem Jahr vielleicht die thematisch vielfältigste. Ein Zeitkrieg, ein Goblin Markt in einer anderen Dimension, eine Weltraummission, eine Unterwassergesellschaft, Gespräche mit Doppelgängern in anderen Zeitlinien und ein Kairo in einer alternativen Realität des Jahres 1912 – viel vielfältiger geht es nicht. Vor diesen Hintergründen werden Fragen wie die Stärke der Liebe, Zugehörigkeit, menschlicher Forschungsdrang und menschliche Freiheit sowie gesellschaftlicher Fortschritt durchgespielt. Das ist abwechslungsreich, meinungsstark und in fast allen Fällen spannend. Das macht die nominierten Novellen wie im letzten Jahr zu einer starken Kategorie der Awards.

6. This Is How You Lose the Time War (von Amal El-Mohtar & Max Gladstone)

Rot und Blau bekämpfen sich als Soldatinnen in einem temporalen Krieg. Sie beginnen einander geheime Briefe zu schreiben, verlieben sich ineinander und schaffen sich eine Zukunft miteinander. Die Novelle ist eine nette Geschichte, wie Liebe die größten Gegensätze überwinden kann. Allerdings ist sie nur zur Hälfte ein Briefroman, die andere Hälfte sind erzählte Szenen. Die erzählte Hälfte ist leider weniger überzeugend als die ständigen Neckereien der beiden Soldatinnen. Hier bleibt alles so vage, dass man sich fragt, warum es diese Hälfte der Novelle überhaupt gibt. Alles in allem ist „This Is How You Lose the Time War“ ein interessanter Ansatz eines modernen Briefromans, dessen Hintergrund, inklusive des titelgebenden temporalen Krieges, jedoch etwas oberflächlich bleibt.

5. In an Absent Dream (von Seanan McGuire)

Der vierte Teil der „Wayward Children„-Reihe greift das Schicksal Lundys, einer im ersten Teil der Reihe ermordeten Lehrerin der Schule für Kinder, die mit Portalen in andere Welten in Kontakt geraten sind. Lundy sieht sich ebenfalls in einer anderen Welt, dem Goblin Markt, zuhause. Dort herrschen klare kapitalistische Regeln. Kinder dieser Welt müssen sich zwischen unserer Realität und dem Goblin Markt entscheiden, wenn sie 18 Jahre alt werden. Lundy versucht um diese Entscheidung herumzukommen. Obwohl das Ende der Novelle für Leser des ersten Teils bereits bekannt ist, ist „In an Absent Dream“ eine der stärksten Folgen der Reihe. Die Novelle thematisiert stärker als die vorherigen Episoden, warum Lundy von der eigentlich so grausamen Welt des Goblin Markts angezogen wird. Diese starke Charakterorientierung erzeugt nicht nur überraschend viel Spannung, sondern wirft interessante Fragen auf, wann Regeln und damit Freiheitseinschränkungen für ein glückliches Leben sogar nützlich sein können. Leider ist das Ende etwas überhastet und man erfährt nicht den interessantesten Teil aus Lundys Leben: Wie sie sich mit dem Verstoß aus dem Goblin Markt arrangiert.

4. To Be Taught, If Fortunate (von Becky Chambers)

Vier Wissenschaftler reisen mit einem Raumschiff zu vier sehr unterschiedlichen Planeten. Die Reise dauert Jahrzehnte, da die Forscher immer wieder lange Kälteschlafperioden durchleben. Am Ende stellt sich angesichts der möglichen Vernichtung der Menschheit auf der Erde die Frage, ob man zurück ins Sonnensystem reist oder die Erforschung neuer Planeten einfach so lange fortsetzt, bis die letzten Ressourcen aufgebraucht sind. Die eigenständige Novelle Chambers (und damit erstes Werk, das nicht im „Wayfarer“-Universum spielt, überzeugt wie Chambers andere Werke mit den sehr gut ausgearbeiteten, glaubhaften Charakteren. Dazu gesellen sich geradezu poetische Besuche fremder Planeten, die alle ihre ganz eigene Schönheit aufweisen, aber auch Gefahren und Herausforderungen verbergen. In Verbindung mit Chambers generell sehr positiver Schreibphilosophie ist das sehr unterhaltsam und kurzweilig. Angesichts des spannenden Endes hätte man sich jedoch gewünscht, dass die Rahmenhandlung etwas stärker neben den vier Forschungsmissionen entwickelt wäre, um das offene Ende besser einordnen zu können.

3. The Deep (von Rivers Solomon mit Daveed Diggs, William Hutson und Jonathan Snipes)

Während des Sklavenhandels wurden schwangere Frauen gelegentlich über Bord geworden, da sie zu viele Kosten verursachten. In „The Deep“ haben ihre Kinder überlebt und sich einem Leben unter Wasser angepasst. Yetu ist eine Historikerin und folgt den entbehrungsreichen Regeln ihrer Gemeinschaft. Eines Tages bricht sie jedoch aus und verliebt sich in eine Frau an Land, die ihre Heimat in einer Katastrophe verloren hat. „The Deep“ lässt viele Fragen offen, besticht aber mit starken Unterwasserbildern und einer sehr überzeugenden Liebesgeschichte. Man würde gerne mehr über die Unterwassergesellschaft erfahren. In diesem Fall wird die Novelle aber dadurch stärker, dass sie sich einfach auf Yetus, von Traumata der Vergangenheit geprägten, Umgang mit Emotionen konzentriert.

2. Anxiety is the Dizziness of Freedom (von Ted Chiang)

Menschen können in dieser Novelle mithilfe von Prismen in andere Zeitlinien gucken. Diese entstehen jedoch erst durch die Aktivierung eines jeden Prismas und starten vor allem mit einer anderen Entscheidung der Person, die das Prisma aktiviert. Vor diesem Hintergrund verhandelt Chiang nicht nur interessante Fragen über Vorbestimmung und Entscheidungsfreiheit, sondern erzählt zudem eine spannenden Scharlatansgeschichte und eine berührende Verarbeitung jahrzehntelang aufgestauter Schuld. Dieser starke Mix ist technisch faszinierend, ausgesprochen spannend und gibt darüber hinaus auch noch interessante Denkanstöße über menschliche Freiheit.

1. The Haunting of Tram Car 015 (von P. Djélì Clark)

Ägypten, 1912: In dieser Zeitlinie gibt es Geister und Dämonen und Hamed Nasr ist als Agent das ägyptischen Ministeriums für Alchemie, Verzauberungen und übernatürliche Wesen dafür zuständig unter ihnen für Ordnung zu sorgen. In dieser Novelle muss er mit einem Novizen einen überaus hartnäckigen Dämon aus einer Straßenbahn verdrängen. Clark baut hier eine spannende Alternativwelt auf, in der die entscheidenden technischen Entwicklungsschritte aufgrund des Innovationsschubes plötzlich auftauchender Dämonen nicht im Westen gemacht wurden. Subtil zeichnet er im Hintergrund von Nasrs Ermittlungen auf, wie gesellschaftlicher Fortschritt durch den plötzlich gestiegenen Wohlstand in Ägypten erkämpft wird. Dabei verliert er nie Nasrs Fall aus den Augen und erschafft so einen spannenden Exorzismus vor der Kulisse eines prosperierenden, vielfältigen und progressiven Landes, das sein Schicksal früher als in unserer Welt selbst in die Hand nehmen kann. Das ist nicht nur spannend und unterhaltsam, sondern auch hoffnungsfroh hinsichtlich des Potentials menschlichen Fortschritts und melancholisch angesichts der vielen durch aggressiven Kolonialismus verbauten Entwicklungsmöglichkeiten. Dieser gelungene Mix ist der stärkste Beitrag der diesjährigen Nominierungen.

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