Der Atem einer anderen Welt (von Seanan McGuire)

(Orig. Titel: „Every Heart a Doorway“)

Nancy ist aus einer anderen Welt zurückgekehrt. Diente sie vor kurzem noch dem Herrn der Toten als Statue, wünschen sich ihre Eltern nun wieder ihre fröhliche und bewegungsfreudige Tochter zurück. Doch Nancy hat sich verändert. Daher schicken ihre Eltern Nancy auf Eleanor Wests „Haus für Kinder auf Abwegen“, also für Kinder, die Erfahrungen mit anderen Welten gemacht hat. Sie glauben, dass Nancy dort von ihrem Trauma geheilt wird. Tatsächlich ermutigt Eleanor West die Kinder ihrer Schule darin, sich mit ihren Fremdwelterfahrungen auseinanderzusetzen. Einige Kinder finden in Wandschränken oder anderen Gegenständen einen Weg zurück in ihre Heimat. Andere realisieren, dass es für sie kein Weg zurück gibt und arrangieren sich mit unserer Realität. Nancy ist kaum angekommen als ihre Zimmergenossin brutal ermordet wird. Nancy ist eine neue Schülerin und ist zudem frisch aus einer der verschiedenen Unterwelten zurückgekehrt. Die Schülerinnen aus heiteren, utopischeren Fremdwelten sehen in ihr und Besuchern ähnlich düsterer Welten potentielle Mörder. Da sich Nancy auf der Schule erstmals seit ihrer Rückkehr akzeptiert fühlt, ist sie wild entschlossen den Mörder oder die Mörderin ausfinding zu machen, bevor die Schule geschlossen wird und sie von ihren Eltern wieder in bunte Kleider und hektische Aktivitäten gezwungen wird.

„Every Heart a Doorway“ baut eine faszinierende und vor allem vielfältige Welt auf. Eleonore Wests Schule ist bevölkert von Kindern, denen aus unterschiedlichen Gründen eine Tür in eine andere Welt geöffnet wurde. In der Regel wurden einige ihrer Eigenarten von ihren Eltern oder ihrem Umfeld nicht akzeptiert oder aber verformt. Auf jeden Fall stießen sie nach ihrer Rückkehr auf die Ablehnung ihres Umfelds und wurden letztlich geradezu auf das Internat Wests abgeschoben. McGuire zeichnet dabei im Hintergrund der Handlung ein Panorama der verschiedensten Welten, die die verschiedenen Kinder besucht haben. Durch den Kniff eines Hobbykartographen in der Schule erfährt man zudem, nach welchen logischen (und vor allem unlogischen) Kriterien sich die Welten voneinander unterscheiden. Die Erzählung ist aufgrund der verschiedenen Motive, in eine andere Welt zu wechseln, als auch in den unterschiedlichen Lebensstile, die die Kinder in den Welten erfahren und sich angeeignet haben, vor allem ein Plädoyer für Toleranz gegenüber vielfältigen Lebensentwürfen.

Das ist aufgrund der starken Charaktere angenehm unaufdringlich erzählt. McGuire jongliert in dieser knappen Novelle mit vielen Charakteren herum. Nancy selbst wünscht sich nichts sehnlicher als ihrer hektischen, kindlichen Umwelt zu entfliehen und als Statue ihre Ruhe und damit ihr Glück zu finden. Christopher wiederum hat eine Unterwelt voller Skelette gefunden und sehnt sich nach der Reinheit, die er dort gefunden hat. Jack und Jill wiederum haben unterschiedliche Erfahrungen in einer Horror-Welt gemacht, Jack als Dienerin eines manischen Wissenschaftlers, Jill als Tochter eines Vampir-Lords. Obwohl alle diese Erlebnisse in Unterwelten spielten, sind die daraus resultierenden Wünsche und Neigungen gänzlich unterschiedlich. Gemein ist ihnen lediglich, dass sie in ihre Welten zurückkehren möchten. Kade wiederum möchte nicht zurückkehren. Er lebte in einer Welt, in der sich Feen und Kobolde bekriegten. Er wurde aus dieser Welt geworfen, als die Feen herausfanden, dass das niedliche Mädchen, das sie zu sich geholt hatten, eigentlich ein Junge war. Eine Rückkehr ist ihm daher nicht möglich. In unserer Welt wiederum bereitet er sich darauf vor, als Eleonores Neffe die Schule zu übernehmen. Gleichzeitig wird er hier aber dafür von einigen dafür angefeindet, dass er so tut als sei er ein Junge – was das Gegenteil des Grundes ist für den er aus seiner Welt verstoßen wurde. Gemeinsam arbeiten sie daran, den Mord an Nancys Mitbewohnerin aufzuklären. McGuire gelingt es auf dem engen Raum, vielschichtige Bilder der Kinder zu zeigen. Das gelingt in erster Linie durch den latenten Konflikt mit den Kindern aus lichteren Welten. Die Auseinandersetzungen sind gut eingefangen und drehen sich immer um die Frage, was man noch akzeptieren kann. Während der Leser durch McGuires Schilderungen zum Beispiel Christophers Faszination für Skelette oder Jacks Vorliebe für Experimente mit viel Blut nachvollziehen kann, stößt dies bei einigen Schülern auf wenig Gegenliebe.

Im Verlauf der Handlung kommt es zu weiteren Morden. Dabei erscheint es etwas unwahrscheinlich, dass die Polizei sich bei den Ermittlungen nicht rasch selbst einschaltet. Stattdessen lässt West die Leichen verschwinden und ihre Schülerinnen sich gegenseitig beschützen. Dieser Handlungskniff erllaubt es McGuire jedoch, ein hohes Maß an Spannung aufzubauen. Für eine Weile ist nicht wirklich klar, wer der oder die Mörderin ist. Ist es jemand aus dem Kreis der Unterwelten? Oder tragen einige der Kinder aus lichteren Welten doch eine dunkle Seite in sich? Das sorgt für Spannung und in den Rätseln der Protagonisten zudem für weitere Handlungstiefe. Die Auflösung ist knapp, spannend und ein wenig schockierend. Denn hier tritt zu tage, wie weit Menschen bereit sind zu gehen, um in eine Situation zurückkehren zu können, in der sie sich sowohl akzeptiert als auch glücklich fühlten. Im Umkehrschluss unterstreicht dies, wie grausam es ist, Menschen einem Leben auszusetzen, in denen sie sich ausgegrenzt und unglücklich fühlen. Das ist ein sehr gelungenes Ende für diese fantasiereiche, charakterstarke und thematisch reiche Novelle.

(Während ich normalerweise versuche Originalausgaben zu rezensieren, basiert dieser Kommentar auf der deutschen Ausgabe von „Every Heart a Doorway“, die unter dem Titel „Der Atem einer anderen Welt“ in dem Sammelband unter demselben Titel bei Tor Fischer erschienen ist. Ich erwähne dies an dieser Stelle, da der Sammelband die ersten drei Novellen der „Wayback Children“-Serie für derzeit 14,99€ (Ebook-Version) enthält, während mit Ausnahme der ersten Novelle alle weiteren Novellen in der englischen Originalausgabe einzeln jeweils um die 10€ kosten. Die Ersparnis beim Erwerb des deutschen Sammelbands ist also ausgesprochen hoch.)

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