The Deep (von Rivers Solomon mit Daveed Diggs, William Hutson und Jonathan Snipes)

Yetu ist eine Historikerin der Wajinru. Dabei handelt es sich um ein Meervolk, das durch den Sklavenhandel entstanden ist. Unter den vielen aus verschiedenen Gründen über Bord geworfenen Sklaven waren einige schwangere Frauen. Ihre Kinder verwandelten sich in Meerwesen und schafften eine Unterwasserkultur. Durch Begegnungen mit Menschen erkundeten sie ihre Herkunft und lernten, sich zu vermehren. Doch ihre Erinnerungen blenden sie in der Regel aus. Yetu ist als Historikerin ausgewählt worden und trägt dadurch eine schwere Bürde. Regelmäßig leitet sie ein aufreibendes Ritual, in dem sie ihr Volk durch die Erinnerungen lotst. Sie kann daher nicht selbst über ihr Leben entscheiden. Yetu rebelliert ausgerechnet in dem Moment gegen ihre Rolle als der Lebensraum der Wajinru durch Ölbohrungen bedroht wird. Bei ihrer Flucht landet sie verletzt an der Küste und wird von gutmeinenden Menschen aufgepäppelt. Dabei wird sie von der Fischerin Oori mit Nahrung versorgt und baut eine intime Beziehung zu der abgehärteten Frau auf. Bald müssen sich die beiden Frauen mit den traumatischen Folgen ihrer Herkunft auseinandersetzen.

„The Deep“ besticht mit den phantastischen und doch realistischen Wajinru. Akzeptiert man die Prämisse, dass die Neugeborenen, der unzähligen während der Überfahrt ermordeten Sklaven, unter Wasser überleben konnten, entfaltet sich eine faszinierende Kultur in „The Deep“ aus. Die Novelle ist zunächst schwer zugänglich: Weder ist dem Leser der Hintergrund der Wajinru bekannt, noch sind Yetus Aufgaben als Historikerin leicht nachzuvollziehen. Es wird aber schnell deutlich, dass Yetu nicht aus eigenem Antrieb Historikerin geworden ist und unter ihrer Rolle leidet. Das eigentümliche Verhältnis der Wajinru zu ihrer Geschichte – sie sind gleichzeitig darauf angewiesen und drohen immer wieder von ihr übermannt zu werden – geben der Novelle eine mystische Stimmung. Das komplexe System telepathischer Erinnerung und die starken emotionalen Konsequenzen für Yet erzeugen zusätzlich Spannung. Yetu verlässt ihr Volk während eines Erinnerungsrituals. Sie sprengt dabei ihre Fesseln und ignoriert die in sie gesetzten Erwartungen. Der Auslöser sind die Konsequenzen der Ölbohrungen. Ihre Flucht bedeutet Leid für ihr Volkes, das sich in den Erinnerungen ohne Yetus Anleitung zu verlieren droht. Gleichzeitig genießt Yetu dadurch eine bis dahin nie gekannte Freiheit. Die Gemeinschaft der Wajinru und Yetus Konflikt darin sind beeindruckend und fesselnd. Die unter Wasser Szenen sind ungewöhnlich und atmosphärisch stark, man würde gerne mehr davon lesen und über das Volk der Wajinru erfahren.

Die Geschichte konzentriert sich jedoch zu einem großen Teil auf Yetus Aufenthalt unter den Menschen. Es ist dabei beeindruckend, dass sie an Niemanden gerät, der das neu entdeckte Meervolk erst einmal studieren (und sezieren) möchte. Stattdessen stößt Yetu auf Frauen, die umgehend bereit sind, ihr zu helfen. Versorgt wird sie von der Einzelgängerin Oori. Da Yetu in ihrem Beruf ebenfalls gezwungenermaßen eine Einzelgängerin war, identifiziert sie sich umgehend mit Oori. In wortkargen Unterhaltungen beginnen die beiden Verständnis und Zuneigung füreinander aufzubauen. Dabei wird rasch klar, dass beide unter unterschiedlichen Traumata leiden. Während Yetu unter der Erinnerung ihres Volkes und der Pflicht, diese zu kommunizieren leidet, leidet Oori unter dem Verlust ihres Volkes und ihrer Vergangenheit. Die Spannung und die gleichzeitige Vertiefung der Beziehung zwischen den beiden Frauen ist sehr gelungen. Beide Themen werden nie direkt diskutiert, aber sowohl Yetu als auch Oori lernen voneinander und werden sich im Laufe der Novelle ihrer gegenseitigen Bedeutung bewusst. Diese Liebesgeschichte ist atmosphärisch so stark wie die Beschreibungen der Wajinru und psychologisch feiner ausgearbeitet als das kollektive Trauma der Wajinru. Die langsam wachsende Zuneigung zwischen den beiden macht Solomon subtil und gleichzeitig eindeutig erfahrbar. Trotzdem sehnt man sich am Ende mehr über die Wajinru unter Wasser zu erfahren.

Durch Solomons klare Sprache und die damit erschaffene komplexe und vielschichtige Kultur der Wajinru und Gefühlswelt Yetus ist „The Deep“ dennoch eine faszinierende und spannende Novelle. Man fühlt mit Yetu und wird durch die beschreibende und nicht erklärende Erzählart zum Nachdenken über Selbstbestimmung, Verlustverarbeitung und Liebesbeziehungen angeregt. In Verbindung mit den gelungenen Unterwasserbildern und Entwürfen eines komplexen Meervolks hinterlässt dies einen gleichzeitig träumerischen und aufwühlenden Eindruck, der zu dem dunklen Hintergrund dieses Ausflugs in die Tiefen des Ozeans passt.

Die Novelle „The Deep“ ist von Rivers Solomon geschrieben und basiert auf einem Lied der Experimental-Rap Gruppe clipping (Daveed Diggs, William Hutson und Jonathan Snipes). Dieses Lied basiert wiederum wohl auf dem Werk der Technogruppe Drexciya. Die Novelle ist für den Hugo Award 2020 in der Kategorie „Best Novella“ nominiert.

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