Gedanken zu der Kategorie „Bester Roman“ der Hugo Awards 2020
|Ende des Monats werden die Hugo-Awards für das Jahr 2020 verliehen. Die Hugos sind einer der wichtigsten Science Fiction und Fantasy Preise. Abstimmen können alle TeilnehmerInnen der jährlich stattfindenden World Con sowie Unterstützungsmitglieder. Auch in diesem Jahr habe ich mich wieder für die Abstimmung angemeldet, wodurch man Zugang zu den meisten nominierten Werken erhält. Ärgerlicherweise habe ich es zwar geschafft mich durch die vier Kategorien, bei denen ich abstimmen wollte, zu lesen, habe mich dann aber bei der Abstimmungsfrist am 22. Juli um einen Tag verschätzt. In diesem Jahr gibt es daher nur Listen mit der Reihenfolge, in der ich abgestimmt hätte und Links zu den kompletten Rezensionen. Den Abschluss machen die nominierten Romane. Die sechs nominierten Werke waren in diesem Jahre alle stark, unterhaltsam und Gedanken anregend. Ihnen allen ist gemein, dass sie ihre vielfältigen, oft komplexen gesellschaftlichen Themen in Geschichten verpacken, die auf ereignisreiche und oft actionstarke Höhepunkte zusteuern. Nachdenken über gesellschaftliche Verhältnisse in unterhaltsamer und bewegender Form: die nominierten Romane in diesem Jahr lösen dieses „Science Fiction“- (und in einem Fall „Fantasy“-) Versprechen sehr überzeugend ein.
6. A Memory Called Empire (von Arkady Martine)
Martine entwirft ein überzeugendes, interstellares Imperium, das Frieden nach innen garantiert, aber für seine Nachbarn eine stete Gefahr ist. Der Roman ist aus der Perspektive der Botschafterin der Lsel Station, Mahit Dzmare, erzählt, die herausfinden muss, warum ihr Vorgänger ermordet wurde und wie sie die Annexion ihrer Station durch das Imperium verhindern kann. Der Roman glänzt mit seinen politischen Intrigen und seinen starken Nebenfiguren. Leider bleibt Mahit Dzmare sehr blass und die einzelnen Fraktionen des sich anbahnenden Bürgerkrieges im Imperium zu oberflächlich. Die streckenweise durchaus interessanten Konfliktlinien und Motive der verschiedenen Charkatere treten dadurch leider zu häufig in den Hintergrund.
5. Gideon the Ninth (von Tamsyn Muir)
Unfreiwillig folgt Gideon ihrer Nekromantin des neunten Hauses zu einer perfiden Prüfung durch den Imperator. Das geplante Spielchen stellt sich als Falle heraus, bald kämpft hier jeder gegen jeden. Der Roman möchte cool, pfiffig und ganz besonders flott sein. Daher reißt Gideon einen Spruch nach dem anderen. Letztlich geht es jedoch um ihre tragische Herkunft sowie um die noch größere Tragödie um ihre Nekromantin und Feindin/beste Freundin Harrow, die letzte Hoffnung des neunten Hauses. Das ist tatsächlich weitgehend sehr kurzweilig. Der Roman leidet jedoch unter vielen Charakteren, die sich so ähnlich verhalten, dass sie kaum auseinanderzuhalten sind. Gideons zynische Art sorgt zudem für einen distanzierten Blick auf das permanente Morden in den Prüfungsräumen des Diktators. So ist man häufiger als nötig nicht wie erwünscht schockiert über einen weiteren Mord, sondern fragt sich viel mehr, wer hier gerade das zeitliche gesegnet hat und ob das für die Handlung überhaupt von Bedeutung ist.
4. The Ten Thousand Doors of January (von Alix E. Harrow)
Januarys Eltern haben sich durch das Durchschreiten von Dimensionstüren kennengelernt. Durch eine Tragödie wurden sie getrennt und leben nun in unterschiedlichen Dimensionen, immer auf der Suche nacheinander. January wächst daher bei ihrem Ziehvater Mr. Locke auf, dem ihr Vater vertraut. Beide wissen nicht, dass es Locke darum geht Ordnung und Stabilität zu sichern und die Dimensionstüren für immer zu schließen. „The Ten Thousand Doors of January“ überzeugt auf zwei Ebenen. Januarys Aufwachsen im strengen Haushalt ihres Ziehvaters lässt einen überzeugenden, unsicheren und gleichzeitig starken Charakter heranwachsen. Die komplizierte Handlung um die Dimensionstüren erschließt sich für den Leser langsam, dafür aber stimmungsstark und schlüssig. Alles führt zu einem spannenden Finale, dass in einem rührseligen Ende mündet. Die ineinander verschachtelte Handlung wirkt an einigen Momenten etwas zu konstruiert, was durch die erzeugten Emotionen der Famlienzusammenführung jedoch gut ausgeglichen wird.
3. The City in the Middle of the Night (von Charlie Jane Anders)
Der dritte Platz für diesen Roman verdeutlicht, wie gut die nominierten Romane in diesem Jahr sind. „The City in the Middle of the Night“ ist nämlich ein sehr überzeugender und vor allem bewegender Roman. Wie „The Ten Thousand Doors of January“ ist es ein Coming-of-Age Roman Sophies, die sich aus armen Verhältnissen durch Bildung einen Platz in der starren Gesellschaft einer mit immer weniger Ressourcen auf einem unwirtlichen Planeten auskommen müssenden Restmenschheit gesichert hat. Indem sie eine Freundin deckt, für die sie tiefe Liebe empfindet, verliert sie alles. Außerdem geht es um Mouth, die einem Nomadenstamm entstammt, der in einer Katastrophe komplett ausgelöscht wird. Beide Charaktere wachsen an ihren frischen (und älteren) Traumata und versuchen Glück und Freundschaft in der durch immer stärkeren Konflikten gezeichneten Gemeinschaft zu finden. „The City in the Middle of the Night“ verbindet dabei eine ungewöhnliche und beeindruckende Kolonie mit zwei einzigartigen Stadtgemeinschaften, einer gefährlichen und gleichzeitig wunderbaren Flora und Fauna und einer Geschichte über das Aufwachsen in Krisenzeiten, Freundschaft und Liebe sowie dem Drang nach Gerechtigkeit und der Schwierigkeit ihrer Umsetzung. Dieser eigentlich viel zu komplizierte Themenmix geht Anders leicht von der Hand und ist unterhaltsam, bewegend und nachdenklich zugleich.
2. The Light Brigade (von Kameron Hurley)
„The Light Brigade“ konzentriert sich ganz auf einen Charakter: Dietz ist ein Soldat für ein Unternehmenskonglomerat, das gegen die Kommunisten auf dem Mars kämpft. Die Soldaten reisen durch Instant-Sprünge an die Front. Dietz ist dabei ein Teil einer Gruppe, die die Sprünge zwar überlebt, aber dabei durch die Zeit reist. Auf diese Art erfährt sie mehr Hintergründe über den Krieg als viele andere und schließt sich einer Brigade an Soldaten an, die ebenfalls durch die Zeit reisen und daran arbeiten, die dunklen Hinterleute des Konflikts auszuschalten. Der Roman lebt von seinem cleveren Aufbau. Der Leser ist wie Dietz über weite Strecken verwirrt, lernt Stück für Stück Hintergründe aus Dietz leben sowie die kalte kapitalistische Gesellschaft kennen, die Menschen nicht nur wie Dinge behandelt, sondern vor allem auf perfide Art das Gehirn wäscht. Daraus wird ein kreativer Anti-Kriegs- und Anti-Kapitalismusroman, der nebenbei noch die Bedeutung einer freien Gesellschaft und Presse betont. Das ist actionreich, berührend und intelligent zugleich.
- Middlegame (von Seanan McGuire)
Seanan McGuires fulminanter Roman „Middlegame“ kommt weitgehend ohne die interessanten politischen Themen der anderen Romane in dieser Liste aus. Stattdessen präsentiert die Autorin einen komplexen Frankenstein-Ableger, der Horror, Phantastik und Zeitreisen sowie Bildungsroman auf packende Weise miteinander verbindet. Die Erzählstruktur für diesen gelungenen Mix ist ungewöhnlich gradlinig und erlaubt dem Leser die beiden Protagonisten Roger und Dodger in ihrer schwierigen Jugend zu begleiten: Die beiden sind unwissentlich eine geplante Waffe eines Alchemisten, um die Naturgesetze unserer Welt für immer zu ändern. Doch in ihrer Einsamkeit bauen die beiden künstlich geschaffenen Kinder eine mentale Verbindung zueinander auf und beginnen nach einer emotional entbehrungsreichen Jugend in mehreren Versuchen, ihren Erschaffer bei seinem bösen Werk zu hindern. Das beginnt als kluger Jugendroman, endet in einem packenden Thriller und ist zwischendrin von einer Reihe präziser Beobachtungen menschlicher Gefühle und Enttäuschungen gespickt. Das macht „Middlegame“ zum eindringlichsten der sechs ausgezeichneten nominierten Romane dieses Jahrgangs.