Gegen unendlich. Phantastische Geschichten 15 (herausgegeben von M. J. Awe & A. Fieberg, Teil 2)

Die 15. Ausgabe des von Michael J. Awe und Andreas Fink herausgegebenen Kurzgeschichten Magazins „Gegen unendlich. Phantastische Geschichten“ erschien im Mai 2019. Hier ist der erste Teil dieser Besprechung zu finden, der sich auf die Kurzgeschichten der Ausgabe aus dem Bereich der Schauer- und Fantasy-Geschichten konzentriert. Dieser Beitrag betrachtet in knapper Form die dystopischen und apokalyptischen Erzählungen.

Der stärkste Beitrag dieser Kategorie ist Rainer Erlers Die Auserwählten. In einer Gesellschaft, in der Gefühle verboten sind und alle zwischenmenschlichen Beziehungen reglementiert sind, entscheidet sich ein junges, für einander ausgewähltes Paar für offenen Widerstand: Sie geben falsche Angaben in ihren Berichtspflichten und entscheiden sich aktiv dafür, Gefühle füreinander aufzubauen. Der Kurzgeschichte gelingt es die emotionslose Sozialisation ihrer Protagonisten darzustellen und dennoch den überraschenden Schwenk zu emotionalen, menschlichen Entscheidungen glaubwürdig wirken zu lassen. Im Kern zeigt die Erzählung, dass keine bürokratische oder politische Herrschaft so totalitär sein kann, positive menschliche Emotionen und das Handeln in ihrem Sinne völlig auszumerzen.

Ebenfalls sehr gelungen ist Andreas Finks Salvation3. Die Menschheit hat die Erde zugrunde gerichtet. In der Erzählung erleben wir wie die knapp 100 letzten Überlebenden ein verzweifeltes Kolonisierungsprojekt initiieren. An Bord sind jedoch einige Pflanzen, unter denen sich ein Parasit versteckt hat. Die Überlebenden sind gespalten: Sollen sie das Risiko eingehen, sich nur von Vorräten bis zur ersten Ernte zu ernähren, um dem Parasiten die Ausbreitung auf dem neuen Planeten zu verwehren, oder sollen sie sich um eine friedliche Koexistenz bemühen. Die Geschichte löst diesen Konflikt nicht auf, zeigt aber examplarisch sehr gut, wie Menschen selbst in existenziellen Situationen auf Unsicherheit und die Furcht davor reagieren. In diesem Setting findet man viele der Gründe, warum die Menschheit die Erde (in dieser Erzählung) zugrunde gerichtet hat und vielleicht tatsächlich zugrunde richten wird. Es zeigt aber auch, dass immer Lösungswege bereit stehen und es nie einen risikolosen Weg in die Zukunft gibt.

Zwei gute Beiträge sind Sascha Dinses Risse und Michael J. Awes Der Komplex. In der ersten Erzählung hat ein missglücktes wissenschaftliches Experiment dafür gesorgt, dass Risse in eine andere Dimension auf der Erde auftauchen, inklusive Wesen, die die Menschheit wahrscheinlich vernichten werden. Ein leitender Wissenschaftler des Experiments versucht herauszufinden, wie es dazu kommen konnte. Er trifft auf eine Kollegin, die ihn für die Ereignisse verantwortlich macht, sowie auf eine ehemalige Kollegin und einstige Liebhaberin, an die sich sonst niemand erinnern kann und die ihn und seinen Chef scheinbar zu dem Experiment im Auftrag der anderen Dimension manipuliert hat. Die Geschichte lebt von ihrer hohen Dynamik, der hektischen Atmosphäre und den zumindest in diesem Beitrag angenehmen offenen Fragen. Nach Risse sind die immer drängenden, offenen Fragen über die Verantwortung der Wissenschaft noch präsenter. Awes Der Komplex ist eine düstere Version einer Zukunft, in der alle Arbeitsschutzgesetze außer Kraft gesetzt sind und sich Menschen (wieder? immer noch?) für die deutsche Exportwirtschaft zu Tode arbeiten. Der Autobauerkomplex und die Arbeitsbedingungen darin sind eindringlich dargestellt. Die Geschichte dreht sich um einen durch eine Zufallsbekanntschaft angestoßenen Denkprozess eines Arbeiters, der von Krankheit gezeichnet am Ende entscheidet, seine letzten Tage in noch größerer Armut, dafür aber Freiheit zu verbringen. Auch hier wird keine Lösung präsentiert, Der Komplex ist stattdessen ein Plädoyer, auf seine Freiheit und Rechte zu achten, selbst wenn der Arbeiterbewegung ganz offensichtlich die Puste ausgegangen ist. Allerdings wirkt die Geschichte mit ihrer sehr direkten Beschreibung der verloren gegangen sozialen Errungenschaft streckenweise etwas zu pädagogisch.

Zuletzt beschreibt Ute Dietrich in Das Depot wie ein Paar nach der Apokalypse nach einer neuen Heimat sucht. Sie finden es am Ende in einem Tal im Schwarzwald, da der Erzähler in der Nähe ein Filmarchiv entdeckt. Die Zukunft ist für ihn erträglicher, da er weiß, dass er sich den Rest seines Lebens mit Geschichten beschäftigen kann. Diese Auflösung der Suche, durch die die Bedeutung von Kunst und Kultur für ein glückliches Leben unterstrichen wird, erscheint etwas zu leicht. Interessanter ist an der Geschichte die skurrile Beziehung zwischen dem Erzähler und seiner (wohl deutlich jüngeren) Partnerin Jees. Da wenig Frauen überlebt haben, eignen sich Männer ihre Frauen wieder gewalttätig an. Der Erzähler lebt daher in der permanenten Angst, man könne ihm seine Frau wieder wegnehmen. Jees selbst scheint keine Gewalt von dem Erzähler und dessen (mittlerweile verstorbener) Großmutter erfahren zu haben, sie wurde jedoch bewusst im Kindesalter für den Erzähler ausgesucht. Dieser Teil der Geschichte, in dem Frauen lang erkämpfte Rechte rasch wieder verlieren und (wieder) wie Besitz behandelt werden, erzeugt beim Lesen ein bewegendes Unwohlsein, dem das auf das Wohlbefinden des Erzählers konzentrierte Ende nicht richtig gerecht wird.

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