Gegen unendlich. Phantastische Geschichten 15 (herausgegeben von M. J. Awe & A. Fieberg, Teil 1)

Seit einigen Jahren lese ich mit großer Freude phantastische Kurzgeschichten aus dem amerikanischen Sprachraum. Eine große Hilfe sind dabei die jährlich erscheinende Best-Off Anthologien. Für den englischsprachigen Raum gibt es derer viele, wobei mir die „Best American Science Fiction and Fantasy“, herausgegeben von John Joseph Adams und wechselnden Co-Herausgebern, am Besten gefällt. Für den deutschsprachigen Markt gibt es solche Anthologien meines Wissens nach leider nicht. Stattdessen muss man die Kurzgeschichten von ihrem Veröffentlichungsort beziehen: Den auf sie spezialisierten Magazinen. Das ist – zumindest für mich – eine überraschend hohe Einstiegsbarriere. Den Wunsch, deutsche phantastische Kurzgeschichten zu lesen, trage ich seit einer Weile mit mir herum. Nun habe ich aber begonnen, mich einmal durch die (als Ebooks zu erwerbenden) deutschsprachigen phantastischen Magazine zu lesen. Den Auftakt macht die aktuelle, im Mai 2019 erschienene 15. Ausgabe des Magazins „Gegen unendlich. Phantastische Geschichten“, herausgegeben von Michael J. Awe und Andreas Fink.

Das Heft umfasst 19 Kurzgeschichten. Während ich die Beiträge aus der eben genannten Anthologie in der Regel einzeln betrachte, halte ich meine Eindrücke dieses Heftes etwas kürzer und bespreche die Geschichten mit einem Fokus auf den behandelten Motiven und Themen in drei Einträgen. Diese Woche beginne ich mit den Fantasy- und Schauergeschichten, am kommenden Montag bespreche ich die apokalyptischen und dystopischen Erzählungen und am 01. Juni die Science Fiction Beiträge mit einem Rückblick auf das gesamte Heft. Die Einteilung entspricht dabei meinem subjektiven Empfinden und ist angesichts der Themenfülle des Heftes objektiv willkürlich.

Besonders eindringlich ist Manfred Lafrentz Wolf in der Steppe unter den phantastischen Geschichten. Der alleinstehende Lilienthal wird durch eine neue, zugezogene Frau völlig aus der Bahn gebracht. Im Lauf der Geschichte wird er völlig von ihr und ihrer erratischen Art, mehrere Männer in ihrem Umfeld zu halten abhängig. Die Erzählung spielt zunächst mit den sexistischen Tendenzen vieler Männern, die Frauen als Objekt und Projektionsfläche betrachten. Im Verlauf der Geschichte dreht sich die Perspektive und Lielienthal gerät in die Abhängigkeit der scheinbar übermenschlichen Frau, der er bis zum, aufgrund seiner Lethargie absehbaren Tod, verfallen ist. Dieser Wandel von ekligen Besitzansprüchen zu schaurigem Verfall ist atmosphärisch stark, spannend und in den knappen Charakterisierungen eindringlich.

Auf sehr unterschiedliche Art sehr gelungen sind die bereits 1929 erschienene Geschichte Die Katze (Kurt Müntzer) und die aus dem argentinische Erzählung Janóvice (Marco Denevi). Muntzer beschreibt einen Mann, dem eine Katze just an dem Tag des Todes seiner Frau zuläuft. Die Katze gibt ihm Halt, doch als er eine neue Frau kennenlernt, bringt sie diese um. Es scheint sich um die Inkarnation seiner nun eifersüchtigen, verstorbenen Gattin zu handeln. Die Erzählung ist weitgehend realistisch gehalten, wodurch das phantastische und schaurige Element nur noch stärker zutage tritt. Die Schlussfolgerungen bleiben Spekulation, wodurch die Geschichte nachwirkt. Janóvice ist ein in den Ruhestand versetzter Archivmitarbeiter, der sich nicht von seiner Arbeit trennen kann. Er kehrt auch nach seiner Pensionierung an seinen Arbeitsplatz zurück, sehr zum Missfalle seiner Kollegen. Mit der Zeit beginnen seine ehemaligen Mitarbeiter und Freunde eine Jagd auf den starsinnigen Rentner, der des Nachts ihre Fehler korrigiert. Janóvice verwandelt sich immer mehr in einen Geist, der – nach mittlerweile völlig veralteten Regeln – die Arbeit der weiterhin Beschäftigten beeinflusst. Die Erzählung schwangt zwischen Satire, Tragödie und Büroratielehrstück. Mit der Zeit werden alle Fehler der Behörde als nächtliche, janoviceske Ereignisse abgetan, eine organisatorische Legende verselbstständigt sich. Die Geschichte besticht durch ihre Leichtigkeit, mit der Tod, Besessenheit und organisatorische Eigenheiten durchexerziert werden.

Raven E. Dietzels Kurzgeschichte Sciurus ist eine interessante Lektüre. Ein Engel und ein Dämon befinden sich in einem Wettstreit, wer sich durchsetzt bestimmt den Verlauf der kommenden Jahrzehnte. Der Dämon hat sich gerade durchgesetzt und nimmt den – für den Zeitraum seines Sieges – sterblichen Engel auf eine Autofahrt mit. In dem anschließenden Gespräch prallen zwei gänzlich unterschiedliche Ansichten der Welt und der Menschheit aufeinander. Die Erzählung ist atmosphärisch stark, inhaltlich aber zu vage. Ihre größte Stärke ist vielleicht, dass man diese scheinbar regelmäßige Auseinandersetzung mystischer Kreaturen auf interessante Art mit den verschiedensten Epochen der Menschheitsgeschichte anwenden kann. Sie ist insofern tröstlich, als dass auf jede dunkle Phase irgendwann wieder Licht folgen wird. Durch den nicht spezifizierten Hintergrund der Auseinandersetzung und vieler offenen Enden baut sie aber zu wenig Spannung und Tiefgang auf.

Weitere zumindest stimmungsvolle Erzählungen sind die ebenfalls argentinische Geschichte Die Cubelli-Lagune (Fernando Sorrentino) und Elias (Simon Viktor). Ersteres ist ein phantastisches Bild, in dem die Bewohner des Cubelli-Sees regelmäßig mit den anwesenden Krokodilen tanzen und dabei hoffen, eines Tages Partner/in des/der Krokodil-Königs/Königin zu werden. Das Bild ist eindringlich, ihm fehlt jedoch ein Handlungskern. In Elias beschreibt Simon Viktor wie ein junger Mensch Elias zunächst von seinem Fenster beobachtet, mit ihm anschließend spricht, von dessen Tod erfährt und am Ende mit der Geistform seines einstigen (und möglicherweise gar eingebildeten) Freundes einen neuen Weg beschreitet. Während die kindliche Perspektive sehr gelungen ist, erscheint auch diese zu vage, um wirklich die kindliche Psyche oder aber das Leid des seine Partnerin verlorenen Elias nachvollziehen zu können.

In Uwe Dursts Dämmerung und Tino Falkes Hutmachers Laterne konnte ich nicht wirklich hineinfinden. Während in ersterer Geschichte eine Familie ihren Nachbarn beim Einbruch der Dämmerung unter ständigem Gebet den Zugang zum sicheren Heim verwehrt, ist der Hutmacher in der zweiten Geschichte von Schuld und ungewollten Besuchern geplagt und auf Hilfe angewiesen. Während die harte bzw. ausbleibende Reaktion auf Hilfe und Not fesselnd dargestellt sind und eine verzweifelte Atmosphäre entsteht, fehlen mir greifbare Motive, Handlungen und Anliegen der Geschichten.

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