Exhalation (von Ted Chiang)

„Exhalation“ ist eine beeindruckende Kurzegeschichtensammlung deren Beiträge alle das Verhältnis zwischen Technik, Wissenschaft und Mensch thematisieren. Chiang gelingt es dabei in jeder Geschichte trotz überzeugender und oft detailreicher Beschreibungen technischer Entwicklungen mithilfe einer poetischen Sprache oder urmenschlichen Situationen intime Momente zu kreieren. Die Kurzgeschichten zeigen dadurch nicht nur, wie Menschen in verschiedensten Situationen Geräte für die Verwirklichung ihrer Gefühle und Träume benutzen. Sie sind zudem spannend, nachdenklich und berührend zugleich.

Das beginnt bereits in der ersten Erzählung „The Merchant and the Alchemist’s Gate“. Ein Händler in Bagdad trifft einen aus Kairo zugereisten Händler, der die fantastischsten Waren anbietet. Nachdem er mit dem Neuzuzügler ins Gespräch kommt erfährt er, dass dieser über Portale verfügt, die Menschen in die Zukunft oder aber in die Vergangenheit versetzen können. Wie in den Geschichten aus 1001 Nacht verwbeen sich die Geschichten früherer Nutzer des Portals mit der Begegnung der zwei Händler. Dabei wird deutlich, dass diese Reisen die Zukunft nicht verändern können, sondern meist einfach dazu beitragen, dass sie so geschieht wie sie geschehen sollte. Dennoch reist der erzählende Händler am Ende in die Vergangenheit, um ein letztes Mal mit seiner bei einem Unfall ums Leben kommenden Frau zu sprechen, von der er sich zuvor im Streit verabschiedete. Er kommt zu spät, erfährt aber von einem Nachbarn, dass seine Frau ihm in ihren letzten Minuten verziehen hat. Dass diese Nachricht seiner zukünftigen Version überbracht wurde, erlaubt es dem Händler zwei Jahrzehnte durch seine Schuld in zwei Jahrzehnten zu einem besseren Menschen zu werden. Die intensive Verbindung der Zeitreisethematik mit den Gefühlen von Schuld und Verlust sowie den geradezu spannenden Geschichten der vorherigen Kunden des Portals machen „The Merchant and the Alchemist’s Gate“ bereits exemplarisch für die berührende, nachdenkliche und gleichzeitig spannende Art der Kurzgeschichten der Anthologie.

Genau so klar in ihrer Sprache und Erzählweise und dennoch komplex und vielschichtig sind „The Lifecycle of Software Objects“, „The Truth of Fact, the Truth of Feeling“ und „Anxiety is the Dizziness of Freedom“. In „The Lifecycle of Software Objects“ setzt sich eine Gruppe begeisterter Nutzer dafür ein, dass ihre intelligenten, in der virtuellen Realität künstliche Intelligenz entwickelnden Zukunftstamagochis ein selbstbestimmtes Leben führen können. Die intime Beschreibung, wie Menschen Leben in Software sehen können und für diese Gefühle entwickeln, ist faszinierend. „The Truth of Fact, the Truth of Feeling“ erzählt von einem Journalisten, der über sein Unwohlsein angesichts der immer ausgiebigeren Auswertung ständig getragener Körperkameras schreibt. Eine Firma möchte diese Daten als eine Art photographisches Gedächtnis für jedes Individuum bereit stellen. Während er das Gerät skeptisch ausprobiert muss er feststellen, dass die größte Verletzung, die ihm seine Tochter je zugeführt hat, tatsächlich die größte Verletzung ist, die er seiner Tochter je zugefügt hat. Dadurch erkennt er, dass seine Verhältnis zu seiner Tochter ganz anders ist als er sich dies gedacht hat. Diese psychologisch eindringliche Geschichte spielt mit den Ängsten vor einem Überwachungsstaat und hinterfragt, was Erinnerung und vor allem Vergessen für unser Verhältnis zu anderen aber vor allem für unseren eigenen Frieden bedeuten. Das ist clever konstruiert und in ihrem Höhepunkt geradezu mitreißend. „Anxiety is the Dizziness of Freedom“ ist zum Schluss des Bandes eine komplexe Geschichte, die die Theorie von Paralleluniversen aufgreift. Menschen haben hier Prismen entwickelt, die sie benutzen, wenn sie sich einer Entscheidung unsicher sind. Sie wählen dann eine von zwei Optionen während hinter dem Prisma in einer anderen Dimension sie selbst die Alternative wählen. Dadurch können sie beobachten, was im anderen Fall passiert wäre. Dies führt zu schwierigen moralischen Fragestellungen und vor allem zu großen psychologischen Problemen, wenn das Alternativ-Selbst erfolgreicher wird. Chiang erzählt vor diesem Hintergrund die Geschichte eines kriminellen Schlitzohrs sowie einer psychologischen Selbsthilfegruppe. Diese intensive Kombination ist ein herrlicher Abschluss für die gleichzeitig technische und emotionale Sammlung.

Neben diesen vier längeren, emotionalen und anregenden Kurzgeschichten finden sich fünf (etwas) kürzere Texte, die etwas andere Wege gehen und sich noch stärker auf ein Motiv konzentrieren. „Omphalos“ erzählt von einer Wissenschaftlerin in einer Welt, die tatsächlich vor gerade einmal etwa 10.000 Jahren von Gott geschaffen wurde. „Exhalation“ beschreibt einen Wissenschaftler, der sein eigenes Hirn mit primitiven Methoden erforscht, um festzustellen, dass seine eigene Welt aufgrund steigenden Luftdrucks bald unbewohnbar sein wird. „The Great Silence“ erzählt von intelligenten, aussterbenden Aras neben einer menschlichen Weltraumbeobachtungsstation, die hoffen über die Station mit den Menschen, die hauptsächlich in die Sterne auf ihrer Suche nach intelligentem Leben gucken, kommunizieren zu können. „What’s Expected of Us“ beschreibt die psychologischen Folgen, die der Beweis deterministischen Handelns auf die Menschheit hat – die meisten hören schlichtweg auf zu Leben, da sie ohne freien Willen kaum Sinn darin sehen. Und zuletzt zeigt „Dacey’s Patent Automatic Nanny“ mit leichten Steampunk-Anleihen, wie ein technikvernarrter Wissenschaftler angesichts eines von ihm als Experiment herangezogenen, nur von Robotern erzogenen Kindes realisieren muss, dass die Liebe von Eltern weder durch die im viktorianischen Zeitalter üblichen Nannys – deren Nachteile der Wissenschaftler mit seinen Maschienen überwinden möchte – noch durch Roboter zu ersetzen sind. All diese Geschichten sorgen für kurze Atempausen zwischen den längeren Beiträgen. Auch ihnen gelingt es, zum Nachdenken anzuregen und durch ihren immer auf menschliche Reaktionen achtenden Fokus zu bewegen und zu berühren.

Diese überzeugende Kombination aus langen und kurzen Erzählungen entführt den Leser in Welten, die eine große Bandbreite technischer Gedankenspiele und menschlicher Emotionen abdecken. Diese intelligente wie spannende Mischung macht es schwer, das Buch zwischen den einzelnen Erzählungen aus der Hand zu legen.

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