Raven Stratagem (von Yoon Ha Lee)

Raven Stratagems Vorgänger Ninefox Gambit ist keine leichte Kost. In diesem Universum ist es einem Imperium, geleitet von einem sechsköpfigen Hexarchat, gelungen die Gesetze der Mathematik zu verändern, indem sie den Kalender verändert haben. Dies gelingt aber nur, wenn die Bevölkerung in einem System diesen Kalender penibel umsetzt. Da die Waffen des Regimes von dem Kalender abhängen, muss es brutal gegen jedwede Häresie gegen die verordnete Zeitordnung vorgehen. Jeder der sechs Anführer steht für eine Fraktion. Am wichtigsten ist die Fraktion der Kel, das Militär des Imperiums. Die Kel leben von ihrem Formationsinstinkt, sie sind psychologisch konditioniert, jedem Befehl in der Hierarchie zu gehorchen. Gegen eine ungewöhnlich starke Gruppe Häretiker wird der Geist eines abtrünnigen Kels in den Kopf der jungen Offizierin Cheris eingesetzt. Der einstige General Jedao hat nie eine Schlacht verloren, wurde jedoch irgendwann wahnsinnig und tötete seine eigene Armee nach einem unerwarteten Sieg. Cheris muss mit dem eigenmächtigen Kommandanten in ihrem Kopf klar kommen. Gemeinsam mit ihren mathematischen Fähigkeiten gelang es beiden die Häretiker zu besiegen. Doch am Ende des Romans war nicht klar, ob Cheris sich gegen den dominanten Jedao durchsetzen konnte und in wie weit sie von dessen eigenen, häretischen Ansichten gegenüber dem Hexarchat beeinflusst wurde.

Für das Hexarchat rückt diese Frage in den Hintergrund als die Hafn, ein mächtiger Gegner, das Reich überfallen. General Khiurev und ihr Kampfschwarm übernehmen die Verteidigung. Sie werden jedoch von General Jedao überrascht. Der Geist des Generals scheint Cheris Körper mittlerweile vollständig übernommen zu haben. Aufgrund des Formationsinstinkts folgen ihm Khiurevs Kel. Anders als erwartet nutzt Jedao den Schwarm jedoch, um das Hexarchat gegen die Hafn zu verteidigen. Aufgrund seines strategischen Geschicks ist er dabei ausgesprochen erfolgreich. Die Hexarchen werden dadurch nervös, ein populärer General Jedao könnte ihnen gefährlich werden. Daher geben sie dem Kel Brezan, der keinen Formationsinstinkt aufweist, die Mission, Jedao zu ermorden.

„Raven Stratagem“ weist deutlich weniger komplexe Diskussionen über experimentelle, auf der veränderten mathematischen Grundlage des Universums beruhende Waffen. Der geringere Komplexitätsgrad sorgt für eine dynamischere Geschichte. Dabei bleibt die „Maschinen des Imperiums“-Serie im abstrakten, unterkühlten Stil treu. Hier wird nebenbei vom Hexarchat ein Völkermord and Kel Cheris Volk verübt, um Jedao unter Druck zu setzen. Der wiederum schreckt nicht davor zurück, Ballungszentren mit Milliarden Lebewesen gegen die Hafn als Köder einzusetzen. Emotionale Reaktionen sind ausgesprochen selten. In einem Moment kommt es dazu, dass ein regionaler Gouverneur um den Schutz Jedaos fleht – er reicht umgehend seinen Rücktritt ein, weil er weiß, dass er sich dadurch untragbar gemacht hat. Doch die Grausamkeit des Regimes ist in „Raven Stratagem“ deutliche als im Vorgänger. Der Leser hat nämlich bisher das Problem gehabt, dass das Regime dem eigenen Wertesystem widerspricht. Direkte Grausamkeiten außer gegen bewaffnete Rebellen weitgehend ausblieben. Hier wird deutlicher, wie stark das Regime gegen Andersdenkende vorgeht und auch vor regulären Hinrichtungen nicht zurückschreckt, um seine Macht aufrecht zu erhalten. Lee gelingt es im zweiten Teil, dass man langsam hinter den abstrakten Erklärungen und Rechtfertigungen, das massenhafte von dem Hexarchat verursachte Leid erkennt. Dadurch geraten zunehmend Individuen außerhalb des Systems aber in Form der dem Formationsinstinkt folgen müssenden Kel auch Teilnehmer des Systems in Blick. Dem Roman gelingt damit auch eine Analogie auf unsere heutige Welt: Oft ist das alltägliche Leid hinter den großen politischen Ereignissen kaum erkennbar. „Raven Stratagem“ schult den Blick dafür.

Gleichzeitig bringt „Raven Stratagem“ mit General Khiurev und Kel Brezan zwei sehr starke Charaktere in die Handlung. Jedao bleibt während des gesamten Romans im Hintergrund, kein Kapitel ist aus seiner Perspektive geschrieben. Stattdessen erlebt man Khiurev, Brezan und einen eigenwilligen Hexarchen. Aus der Perspektive der beiden Kel erfährt man vieles über die unterschiedlichen Beweggründe, dem brutalen Militär beizutreten. Beide Kel stehen aber auch vor der Entscheidung, wie sie es mit ihrer Loyalität zum Hexarchat halten. Dabei stellt sich heraus, dass hinter den stromlinienförmig denkenden Kel nicht nur fühlende, sondern vor allem auch denkende Wesen stehen. Das führt gerade im Fall von Khiurev, die Entscheidungen mit extrem weitreichenden Konsequenzen für ihre eigene Gesundheit treffen muss, zu sehr überzeugenden und berührenden Momenten.

Am Ende steuert alles auf eine große Überraschung hinaus. Eine bis dahin übersehene Fraktion unterstützt Jedao, der einmal mehr viel mehr ist als der Massenmörder als den ihn das Hexarchat fürchtet, und ihm gelingt es, das Hexarchat von Grund auf zu verändern. Dabei geht er weiterhin über Leichen, Jedao hat für sich gelernt, dass er Opfer bringen muss, um die brutalen Hexarchen zu verscheuchen. „Raven Stratagem“ wird in diesen Momenten, in denen Jedao große Risiken eingeht und Opfer bringt, um seinem langfristigen Ziel, das Hexarchat von Grund auf zu verändern näher zu kommen, ausgesprochen nachdenklich. Denn nach all den Gräueltaten kann man Jedaos Eifer verstehen und lehnt die Methoden gleichzeitig ab. „Raven Stratagem“ bewahrt damit das faszinierende, fremdartige Universum mit starrem und brutalem Kastenregime des Vorgängers, ist aber gleichzeitig spannender, emotionaler und nachdenklicher. Das ist eine überzeugende und unterhaltsame Mischung.

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