Histoire de la violence (von Édouard Louis)
|An Weihnachten lernt Édouard auf dem Nachhauseweg Reda kennen. Trotz leichter Skepsis gibt er dem Drängen des jungen Mannes nach und verbringt die Nacht mit ihm. Am Morgen stellt er fest, dass sein Ipad fehlt. Obwohl Reda dieses eindeutig entwendet hat, bestreitet er die Tat. Es kommt zu einem Streit, in dessen Folge Reda Édouard mit einer Pistole bedroht und vergewaltigt. Der Roman beginnt mit Édouards Besuch bei seiner Schwester Clara, die er lange nicht mehr gesehen hat. Der Leser erlebt Édouard, wie er Clara zuhört, die ihrem Mann den Tathergang schildert.
Der autobiographische zweite Roman von Édouard Louis ist wie der erste nicht chronologisch erzählt. Die meiste Zeit steht Édouard im Flur seiner Schwester Clara und hört ihr zu, wie sie ihrem Mann seine Geschichte erzählt. Seine Schwester leidet nach wie vor unter der Abkehr ihres Bruders von der Familie: In seinem ersten Roman schilderte Louis wie er seinen einfachen und gewalttätigen Dorfverhältnissen durch ein Studium verbunden mit der Flucht nach Paris entkommen ist. Damit verband sich auch ein Bruch mit seiner Familie, die seine Homosexualität nicht akzeptierte. Clara wird jedoch weniger vorurteilsbeladen und negativ als der Rest seiner Familie gezeichnet. Sie bemüht sich nach Herzen, ihren Bruder zu verstehen und kann doch nicht verbergen, dass sie niemals mit einem fremden Menschen am Tag des Kennenlernens in die eigene Wohnung gegangen wäre. In ihren Worten wird Édouard mit all den Selbstbeschuldigen konfrontiert, die er sich nach der Tat selbst vorgehalten hat. Daher schiebt Édouard als Erzähler immer wieder Kommentare in die Version Claras ein, die ihren „gesunden Menschenverstand“ ein wenig in Kontext zu Édouards Erfahrungen setzen.
Dominierend ist Édouards Schock. Denn tatsächlich hat er alle Gefahren kommen sehen, zögert über weite Strecken der Weihnachtsnacht und ist zunächst zurückhaltend. Am Ende folgt er doch seiner Lust, die ihn in eine lebensgefährliche Situation bringt. Am meisten verstört ihn dabei, dass er mehrere Möglichkeiten zur Flucht nicht genutzt hat. Stattdessen glaubt er bis zum Ende Redas Geschichten und Erzählungen über seine Familie und seine Ausgrenzungserfahrungen in der zum Teil noch immer rassistischen französischen Gesellschaft. Mithilfe dieser Informationen versucht er Redas Verhalten, die Verletzung seines Stolzes und am Ende gar die Vergewaltigung zu erklären. Diese Gedanken sind berührend und verstörend zugleich und werden daher auch immer wieder von Clara aufgegriffen, die nicht verstehen kann wie ihr gebildeter Bruder solch ein Verhalten entweder nicht vorhersehen konnte oder aber zum Teil entschuldigen kann.
Die Schilderung der eigentlichen Gewalttat ist sehr kurz. Viel mehr Platz nimmt die Vorgeschichte aber auch die Ereignisse nach der Tat ein. Édouards Umfeld drängt ihn dazu, eine Klage zu erheben. In der Folge wird er von Wache zu Wache und ärztlicher Untersuchung zu ärztlicher Untersuchung „herumgereicht“. Währenddessen wünscht Édouard sich vor allem, die ganze Geschichte vergessen zu können. Und obwohl er die Unterstützung durch psychologisch oder psychatrische Hilfe ablehnt, wird doch deutlich, dass die Ereignisse nicht spurlos an ihm vorübergehen. Dadurch wird ein komplexes Bild gezeichnet über die vielen verschiedenen Ebenen, die die psychische und physische Gewalt einer Waffendrohung und Vergewaltigung hervorbringen. Denn neben der Tat erlebt Édouard durch Selbstvorwürfen, strapazierende Prozeduren und der ständigen Wiederholung der Geschichte in seinem Umfeld wiederholende Traumata.
Und obwohl Édouard, der Soziologie studiert(e), sich durch die soziale Situation, die Familienherkunft und dessen Verständnis von Ehre erklären kann, warum Reda ihn misshandelte, merkt er wie sich auch seine Gedanken verändern. Auf einem Türkeiurlaub erkennt er, dass die Tat in ihm rassistische Vorurteile geweckt hat, von denen er sich geschützt wähnte. Doch in Istanbul sieht und fürchtet Édouard überall Reda – genau so wie er beginnt im Verhalten von Freunden, die mit seiner Meinung nicht übereinstimmen, ebenfalls Reda zu sehen. Diese Veränderung in seiner Gedankenwelt ist sehr eindringlich geschrieben: Der Intellektuelle ringt hier mit dem Gefühlsmenschen und muss feststellen, dass nach solch einer tiefgreifenden Erfahrung, der Gefühlsmensch nicht unterdrückt werden kann.
„Histoire de la violence“ ist eine intensive Lektüre: Der Leser wird hier hautnah der Weg zu und die Reaktion auf eine verstörende Gewalterfahrung aufgezeigt. Da es sich um einen Roman handelt, ist es keine Abhandlung um die langfristigen psychischen Folgen dieser Tat. Stattdessen dreht sich der Roman um Édouards Gefühle vor, während und vor allem nach der Gewalttat. Dadurch steht vor allem die Frage nach dem was man anders hätte machen können im Mittelpunkt. Dabei werden auf der einen Seite die Schwierigkeiten beleuchtet, wie man sich nach solch einem Erlebnis gegenüber seinem Umfeld verhält. Je mehr die Frage nach den Möglichkeiten einer Verhinderung der Tat ins Zentrum rückt, schwebt jedoch die Frage wie man mit der Gewalt, die jederzeit zwischen Menschen, aus den unerfindlichsten Gründen vorkommen kann, umgehen kann im Hintergrund: Richtet man sein Leben an dieser Möglichkeit aus und antizipiert alles wie ein rationaler Charakter wie Clara wohl raten würde oder geht man dieselben Risiken wie Édouard ein und vertraut Mitmenschen geradezu blind, mit der immer bestehenden Gefahr sich dem immer existierenden Gewaltrisiko auszusetzen?