Le Livre des Baltimore (von Joël Dicker)

dt. „Die Geschichte der Baltimore“

Marcus Goldman zieht sich nach Florida zurück, um an seinem dritten Roman zu schreiben. Nach seinem Erstlingserfolg über seine Cousins und seinem zweiten Erfolg über einen alten Kriminalfall, versucht er nun das Drama seiner eigenen Familie zu ergründen. Marcus Großvater besaß einen Familienbetrieb, den seine beiden Söhne übernehmen sollten. Doch dazu kam es nie: Während Marcus Vater ein Ingenieur wurde und ein kleinbürgerliches Leben in Montclair, New Jersey führt, ist Marcus Onkel Saul ein erfolgreicher Star-Anwalt geworden, der ein luxuriöses Leben in Baltimore, Maryland führt. Von frühester Kindheit an erlebt Marcus die Unterschiede zwischen seiner Familie, den Goldman-de-Montclair und der seines Onkels, den Goldman-de-Baltimore. Trotz aller Unterschiede gelingt es Marcus, eine einzigartige Beziehung zu seinen Cousins und seinem Onkel aufzubauen, die er bewundert und mit denen er fast all seine Freizeit verbringt. Doch das Glück der Baltimore hält nicht ewig an, der Fall dieses Familienzweigs verstört und verwirrt Marcus noch Jahre später. Nun macht er sich an die Arbeit, mithilfe eines Romans den Fall der Baltimores zu verstehen und stößt dabei durch Zufall auf seine alte Freundin Alexandra, die er zwar noch immer liebt, der er aber auch eine Schlüsselrolle im „Drama“ der Baltimores unterstellt.

Die Erzählung der Baltimores fesselt von Anfang bis Ende. Dicker erzählt die Geschichte nicht linear. Marcus zieht sich im Jahr 2012 nach Florida zurück, schreibt zunächst seine Kindheit (und vor allem die der Baltimores) in den 1980er auf sowie ihre Jugend in den 1990ern. Dabei verwebt er immer wieder Begegnungen mit seinem Onkel kurz vor seinem Tod 2011 sowie mit seiner Ex-Freundin während des Schreibens 2012 ein. Das (unerklärte) „Drama“ schwebt über allen Ereignissen und treibt die Handlung gnadenlos voran. Wie im Vorgänger spricht Marcus wieder einmal mit verschiedenen Leuten und erfährt dadurch immer wieder neue Perspektiven auf den Fall der Baltimores. Das unterhält den Leser die gesamten knapp 600 Seiten des Romans, den man dadurch kaum zur Seite legen mag.

Dieser Sog wird dadurch verstärkt, dass jede Passage mit großen Gefühlen verbunden ist. Mobbing, Eifersucht, Brüderliebe, Selbstsucht und Erfolgssucht verbinden sich immer wieder mit eindeutiger Verletzlichkeit aller Charaktere. Aus Marcus Perspektive wird immer wieder deutlich, wie sehr er sich bei den Baltimores trotz der Nähe zu seinen beiden Cousins (von denen einer adoptiert ist) als Außenseiter fühlt. Dabei wird im Handlungsverlauf deutlich, dass alle Protagonisten sich so sehen. Hinter aller zur Schau gestellten Selbstgewissheit stehen noch größere Selbstzweifel. Das schafft tiefe Wunden, kleine Abstürze und am Ende den großen Fall. Dennoch ist die Handlung nie bitter: Jeder Charakter macht das Beste aus der Situation und am Ende steht man doch als Familie zusammen gegen das Schicksal, dass es mit den Baltimores nun einmal nicht gut meint.

Die Durchschnittlichkeit der Montclairs erscheint im Laufe der Handlung immer mehr als Stärke. Sie führt am Ende zu einem (fast zu) rührseligen Happy End für Marcus. Er ist dabei rückblickend durch seine Position zwischen den zwei Welten durchaus in Versuchung, sich ebenfalls von seinem Ehrgeiz aber auch seinem Familiensinn leiten zu lassen. Dies hätte ihn ebenfalls ins „Drama“ involviert. Da er aber weder den großen Ehrgeiz der Baltimores noch – aufgrund seines Wohnortes und eine handlungsentscheidenden Hilfestellung – denselben Familienzusammenhalt empfand, blieb er vor dem „Drama“ verschont. Dieses Lob der strebsamen und doch an den entscheidenden Stellen genügsamen Durchschnittlichkeit, das sich im Laufe des Buches entfaltet, ist überzeugend dargestellt.

Die einzige Schwäche ist, dass Dickers Charaktere nie dazu kommen, ihre Position zu reflektieren. Sie werden von der (geschickt) konstruierten Handlung zu ihren Taten (an)getrieben. Auseinandersetzungen und Eifersüchteleien bleiben immer implizit, Taten werden oft  vergeben, aber niemals ausgesprochen. Stattdessen redet man auch in der (aus Marcus Sicht) perfekten Baltimore Familie häufig aneinander vorbei und missversteht sich. Das ist für die Konstruktion des Romans wichtig: Denn nur indem Marcus sieben Jahre nach dem „Drama“ die veschiedenen Perspektiven zusammenbringt, machen die Ereignisse Sinn. Da sich die Spannung hauptsächlich aus der verwinkelten Erzählperspektive ergibt, ist der Roman auf seine verschwiegenen Charaktere angewiesen.

Das führt aber auch dazu, dass das Drama am Ende keine Kumulation der subtilen Konflikte ergibt, sondern von außen auf die Familie eindringt. Angesichts eines Schicksalschlages ist die Familie nicht mehr in der Lage, sich gemeinsam zur Wehr zu setzen. Das ist spannend doch gleichzeitig eine riesige Enttäuschung. Denn nach der intensiven Erzählung der Familiengeschichte und den vielen Konfliktlinien hätte man mehr erwartet. Das Abdriften in einen Krimi auf den letzten Seiten erscheint daher misslungen, die Auflösung des „Dramas“ enttäuscht aufgrund mangelnden Tiefgangs (den es zuvor durchaus gegeben hat). Für ein besseres Ende hätte es aber reflektierender und lebendiger Charaktere bedurft anstatt der aus verschiedenen Erzählperspektiven zusammengesetzten Typen. Insofern steht der spannende Aufbau des Buches, einem gelungenen Ende im Weg.

Nichtsdestotrotz hätte man zumindest Marcus mehr Gefühle zulassen sollen. Er lässt sich auch auf seiner 2012er Recherche in der Regel treiben. War er im Vorgänger noch eindeutig emotional involviert, zeigt er hier eine irritierend neutrale Einstellung. Natürlich geht er offen mit seiner Eifersucht (z.B. auf seine Cousins) und auf die Enttäuschung über seine Herkunft um. Viele weitere Emotionen (z.B. seine Liebe zu Alexandra, sein Entsetzen über Sauls Absturz, über den Tod seiner Cousins) bleiben oberflächlich. Außerdem überwindet er die Enttäuschung über seine Herkunft zwar am Ende des Romans, das hätte aber bereits in der Handlung passieren müssen. Auf 600 Seiten unterhält er sich lediglich ein Mal wirklich mit seiner eigenen Familie. Gerade für die Vorgeschichte der Baltimores hätte es zumindest eines Gespräches mit Marcus Vater bedurft.

Obwohl „Le Livre des Baltimore“ also seine Charaktere nie direkt mit den großen behandelten Emotionen umgehen lässt, ist der Roman doch enorm vergnüglich zu lesen. Denn trotz allem kann man sich mit allen Akteuren in jeder Szene identifizieren, fiebert mit und versteht jede Aktion. „Le Livre des Baltimore“ bleibt ein clever konstruierter, spannender und teilweise nachdenklicher Roman über den Absturz einer Familie an einer bewegenden Mischung aus Liebe und Selbstzweifeln.

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