Europa in der Falle (von Claus Offe)

europa_falleClaus Offe sieht Europa in einem Dilemma: Der Euro und die dazugehörige Wirtschafts- und Währungsunion weisen erhebliche Konstruktionsfehler auf. Disintegration sei keine Lösung, ein Austritt würde für die austretenden Länder fatale Konsequenzen haben, da sie von den Verursachern der Krise (u.a. der deutschen Wirtschafts- und Lohnpolitik) keine Solidarität mehr zu erwarten hätten, und das Ende der Währungsunion würde für alle deutlich teurer werden als eine gemeinschaftliche, solidarische Lösung. Allerdings ist auch dieser Weg, die Institutionen der Wirtschafts- und Währungsunion auf eine supranationale und damit handlungsfähige Ebene zu heben, versperrt, da es in keinem Mitgliedsland öffentliche Unterstützung für dieses Vorhaben gibt. In „Europa in der Falle“ legt Offe dieses Dilemma offen, skizziert die verschiedenen Koalitionen, die sich für ein supranationaleres oder nationalistischeres Europa einsetzen und sich damit gegenseitig blockieren und analysiert die Einschränkung demokratischer Spielräume durch die Konstruktionsfehler der Währungsunion und warum der Weg einer deutschen (Wirtschafts)Dominanz nicht gehbar ist. Er schließt mit dem Appell, dass es für Probleme, für die die EU entweder zuständig oder verantwortlich ist, deren Auswirkungen so stark sind, dass sie nicht Experten überlassen werden können und für die alternative Lösungsstrategien mit unterschiedlichen Auswirkungen bestehen, europäische Lösungsstrukturen geben müsse bzw. diese im Problemfall zu schaffen seien. Um die dafür notwendige öffentliche Zustimmung zu erhalten, schlägt er eine so genannte „Eurodividende“ vor (ein „bescheidenes Grundeinkommen“ von 200€/Monat), mit der die EU für ihre Bürger erfahrbar wird. Diese sozialen Programme würden in Verbindung mit der Überwindung des Subsidiaritätsprinzips sowie stärkerer demokratischer Kontrolle die „Glaubwürdigkeit erhöhen“ und der EU „robuste Legitimität (…) verschaffen“ (178). Zusammengefasst wird diese Position in den letzten beiden Sätzen (die auch auf dem Buchrücken abgedruckt sind):

„Als Antwort auf beide Probleme, das makroökonomische und das des sozialen Friedens, wird man auf Dauer nicht mit weniger auskommen als mit der Gewährung soziale Ansprüche, die unmittelbar durch EU-Recht sanktioniert, den Bürgern der EU in ihrer Gesamtheit zukommen und aus Mitteln der EU erfüllt werden. Diese Mittel wären dann diesmal nicht der Rettung von Banken und Staaten gewidmet, sondern der von Arbeitnehmern, Arbeitslosen, Jugendlichen, Retnern und anderen Bürgern, die – individuell oder als Klienten öffentlicher Dienste – in erster Linie die Leidtragenden der Krise waren und sind.“

Offes Büchlein überzeugt mit seiner Krisenanalyse. Er betont, dass die europäischen Länder mit Haushaltsproblemen in der Krise wenig anders gemacht haben als andere Industrieländer. Er weist darauf hin, dass das zentrale Problem nicht nur Länder sind, die über ihren Verhältnissen gelebt habe, sondern auch diejenigen die unter ihren Verhältnissen gelebt haben (z.B. Deutschland). All dies ist bekannt und ist bereits in vielen (häufig amerikanischen) öffentlichen Meinungsbeiträgen verbreitet worden. Was Offes Essay spannend werden lässt, sind seine Überlegungen zum Framing der Krise und zu öffentlichen Koalitionen.

Zunächst weist er darauf hin, dass mit dem deutschen Begriff der „Staatsschuld“ bzw. der „Schuld“ automatisch eine Wertung verbunden ist. In der Krise wurde dadurch automatisch von einem „die“ und einem „wir“ gesprochen, die eine solidarische Lösung von Beginn an unmöglich machte. Dadurch verfallen Akteure in allen Lagern in einen „methodologischen Nationalismus“, der Ursache und Verursacher immer in einem Land verortet, obwohl die Kausalitäten deutlich komplexer seien. Dem setzt Offe entgegen, dass angesichts des Konstruktionsfehlers die nördlichen Ökonomien der Eurozone nicht nur überdurchschnittlich profitiert hätten, sondern damit auch eine moralische Verpflichtung haben, ihren südlichen Partnern zu helfen. Dem ein Austeritätsregime gegenüberstellen sei ein genau so großer Fehler wie der Fehler eine heterogenen Währungsgemeinschaft. Auch dieses Argument ist nicht neu¹, Offes Verbindung des Arguments mit einer (oberflächlichen) Frame-Analyse ist jedoch sehr aufschlussreich.

Genau so erhellend ist die Offes Gegenüberstellung verschiedener Koalitionen. Hier stehen sich nationalistische Linke und Rechte und supranationalistische Linke und Rechte gegenüber. Diese Zersplitterung sorgt dafür, dass keines der beiden Lager intern Einigkeit erzielen kann und somit auch keines die notwendige gesellschaftliche Hegemonie zur Durchsetzung eines Lösungsweges erreichen kann. Da viele anderen Analysen der Krise sich nur wenig mit möglichen Akteurskonstellationen für eine Lösung beschäftigen, ist dies spannend zu lesen. Durch diese doppelte Konfliktlinie lässt sich nicht nur die Eurokrise nicht lösen, es handelt sich hier auch um einen geradezu fundamentalen Dissenz innerhalb des rechten und linken Lagers, dass Populisten in beiden Lagern Munition gibt. Hier hätte Offe anschließen können, um eindringlich die (zur Zeit überall erfahrbaren) negativen Auswirkungen für den nationalen politischen Wettstreit  herauszuarbeiten.

Die „Falle“ von der Offe spricht greift also auf zwei Arten: Es fehlt an Lösungskompetenzen auf der EU-Ebene, doch es gibt weder die notwendige politische Allianz, um diese zu schaffen, noch bewegt sich der öffentliche Diskurs in Richtung eines Zustands, der die Schaffung erweiterter Lösungskompetenzen bedarf.

Neben der (teilweise sehr grob angelegten) Analyse der zur Krise führenden Rahmenbedingungen, des politischen Deadlocks sowie der sich gegenseitig blockierenden politischen Koalitionen und Frames, kann Offe keine ausgearbeiteten Lösungsmöglichkeiten anbieten. Im letzten, knappen Kapitel entwirft er die oben ausgearbeiteten, sehr überzeugenden drei Problemaspekte bei deren Zutreffen europäische Lösungsmöglichkeiten geschaffen werden sollen. Ironischerweise wirft Ofee  Wolfgang Streeck, vor, ein Vertreter einer nationalistischen Linken zu sein, dessen Forderung nach Austritten aus der bzw. der Auflösung der Währungsunion politisch unrealistisch seien. Offes Forderung nach einer (oben skizzierten) sozialen Grundierung der EU, die zudem die erheblichen wirtschaftlichen Unterschiede genau so ignoriert wie einst die Architekten der Währungsunion, ist jedoch genau so unrealistisch. Zurück bleibt eine überzeugende ökonomische Analyse (die im Kern von der Streecks durch das gemeinsame Erkennen fundamentaler Konstruktionsfehler der Währungsunion gar nicht weit entfernt ist) mit einer oben skizzierten sozialdemokratisch-supranationalen Forderung nach der Schaffung politischer Kanäle, die soziale Politik ermöglichen könnten. Anders als die Analyse der Krisensituation, überzeugt diese Antwort vor allem auf einem theoretischen bzw. logischen Level. Offes Arbeit weist selbst darauf, dass sie politisch beinahe unmöglich umzusetzen sind und Europa (und damit Europas Bürger und Parteien) vorerst in der Falle verbleiben wird.


¹Das Ausbreiten bekannter Argumente überrascht weniger, bedenkt man, dass die englische Originalausgabe bereits 2014 erschien.

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