Gekaufte Zeit (von Wolfgang Streeck)

gekaufte zeit

In seinen Frankfurter Adorno-Vorlesungen von 2012 diskutiert Wolfgang Streck „die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“.  Streeck kontextualisiert die derzeitige Wirtschafts- und Finanzkrise in einem Krisenablauf seit den 1970ern, in dem über Inflation, Staatsverschuldung und zuletzt Privatverschuldung dem Kapitalismus immer etwas Zeit „gekauft“ wurde. Dabei, so arbeitet er heraus, wurde der demokratische Kapitalismus als Gesellschaftskonzept keineswegs von der (demokratischen) Bevölkerungsmehrheit verworfen (z.B. durch die Forderung nach mehr Sozialismus) sondern von der Kapitalseite. Sie nutzte die Chance, die ihnen die Krisen sowie der gesellschaftliche Wandel boten, um ihren Einfluss auszubauen und den Einfluss der Gewerkschaften bzw. Bürger zurückzudrängen. Aufbauend auf diese Krisendiagnose, in der Streeck auch Krisenkonzepte der kritischen Theorie aktualisiert, analysiert er das Verhältnis zwischen „Staats-“ und „Gläubigervolk“ im Konsolidierungsstaat. Er argumentiert, dass Regierungen die konträren Interessen beider „Völker“ bedienen müssen, was zumeist zu wenig Alternativen, einer oft schädlichen Austeritätspolitik und damit zu hoher Unzufriedenheit führt. In der Europäischen Union sieht er dabei ein Instrument, dass die Strategiefähigkeit des neoliberalen Konsolidierungsstaates erhöht. Zuletzt plädiert Streeck (in der Neuauflage 2015 in Verbindung mit einem zusätzlichen Aufsatz) für die Auflösung der europäischen Währungsunion, um einzelnen Staaten mehr Handlungsspielraum bei der Lösung wirtschaftlicher Probleme zu verschaffen. Denn in seinen Augen ist es auf europäischer Ebene nicht möglich, eine gemeinsame Demokratie zu schaffen und so bedarf es eines Rückzuges auf die nationalen Demokratien, die eventuell als Bremsklötze gegen die (neoliberale) Aushöhlung demokratischer Selbstbestimmung fungieren können.

Streeck präsentiert mit „Gekaufte Zeit“ eine klare Krisenanalyse, die auch vor komplizierten Analysen nicht zurück schreckt. Sie verweigert sich konsequent, auf populistische Parolen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen oder Nationen zurückzugreifen. Stattdessen analysiert die Analyseperspektive den westlichen Kapitalismus trotz jüngerer Forschungen über nationale Unterschiede als eine Einheit. Diese Perspektive vermengt der Autor mit Anleihen an die Krisentheorie der Frankfurter Schule aus den 70ern. Dadurch steht ein interessanter und teilweise sogar spannender Text, der vor allem die Ursachen für die derzeitige Krise aufdecken möchte.

Das Grundargument ist dabei am Bestechendsten: Die jüngste Dreierkrise (Privatverschuldung, Bankenkrise und Staatsschuldenkrise) ist lediglich ein weiterer Schritt in einer deutlich längeren Krisensequenz. Ordentliche marxistisch argumentiert diese Perspektive, dass jede Krise noch etwas stärker ist als die vorherige und dass die immer wieder (mithilfe von staatlichen oder privaten) Krediten gekaufte Zeit die Situation langfristig nur verschlimmert. Überzeugend ist hier auch die Fokussierung auf die 70er Jahre als Wendepunkt, in der sich die Kapitalseite von einem Nachkriegskonsens verabschiedet hat. Die Beschreibung nährt dabei das Interesse, mehr über die Strategie der Kapitalseite bei diesem Kurswechsel zu lesen. Immerhin gelang es ihr in vielen westlichen Demokratien eine parlamentarische (und eventuell zeitweise gar Bevölkerungsmehrheit) für ihre Ideen zu gewinnen. Auf diesen Aspekt geht „Gekaufte Zeit“ ein.

Nachdem Streeck darlegt, warum der demokratische Kapitalismus nicht an exzessiven Forderungen der Bevölkerung gescheitert ist, schafft er ein holistisches Modell, dass zwischen Staats- und Gläubigervolk unterscheidet. Dieses ist sehr gelungen, verdeutlicht es doch die Widersprüchlichkeiten zwischen denen Politiker heutzutage regieren müssen. Denn was die eine Seite goutiert, lehnt die andere verständlicherweise ab. Die Entwicklung ist so weit vorangeschritten, westliche Demokratien so stark in der Hand ihrer Gläubiger, dass eine Politik „nur“ für das eigene Volk unmöglich geworden ist. In der Konsequenz verwundert die weitverbreitete Apathie gegenüber der Politik und auch das Erstarken populistischer Bewegungen, die den angeblichen Konsens sprengen wollen, kaum.

Wie andere Autoren auch, beschreibt Streeck die EU als eine Liberalisierungsmaschine, die es nationalen Politikern ermöglicht, die Reformen durchzuführen, die sie alleine niemals durchsetzen könnten. Diese Kritik verhehlt nicht, dass die EU auch dazu beigetragen hat, dass die europäischen Ökonomien überhaupt in der Globalisierung bestehen können. Allerdings identifiziert Streeck eine Reihe von Dysfunktionalitäten die die Kapitalseite innerhalb der EU einseitig unterstützen. Dialektische Elemente, die z.B. Hauke Brunkhorst identifiziert, sieht er kaum. Im Gegenteil: Er baut als Strohmann das neoliberale Staatsverständnis Hayeks auf. In der EU sieht er einen Versuch dieses zu verwirklichen, in dem Euro ein Instrument Ländern dieses Modell aufzuzwingen. Da auch diese Analyse eher auf der Feststellung eines kollektiven, demokratischen Versagens aufbaut anstatt auf einseitigen Schuldzuweisungen z.B. in Richtung Griechenland, ist auch diese Perspektive sehr interessant und stimulierend.

Zu Beginn seiner Arbeit hält Streeck fest, dass Kritik auch ohne Lösungsvorschläge vorgebracht werden kann (und muss). Denn das Argument, Kritik müsse es immer besser machen können, stelle man mehr Kritiker mundtot als dass man der Diskussion helfe. Auf dieser Grundlage entwickelt er eine gut lesbare und überzeugende Krisenanalyse, die sich zudem zu einer Kapitalismuskritiker entwickelt, die der derzeitigen Wirtschaftsform angesichts der sich immer weiter vertiefenden Krisen wenig langfristige Überlebenschancen einräumt. Die Skizze des endgültigen Ende des demokratischen Kapitalismus regt auch deswegen zur Sorge an, da es weder eine Idee davon gibt, was danach kommen könnte, noch die überzeugenden Institutionen und ihrer Vertreter, die diese Zeit gestalten könnten. Der Zukunftsausblick entzieht sich dieser Analyse. Damit wird das Buch zur Aufforderung an die Leser, sich mit dieser und anderen Krisenanalysen auseinanderzusetzen, kontinuierlich gesellschaftliche Debatten einzufordern, um entweder den Kapitalismus (und hier in erster Linie das Kapital) wieder einzuhegen oder aber sich auf die Zeit der sich noch weiter verstärkenden Krisen vorzubereiten. „Gekaufte Zeit“ gibt dafür fundierte Denkanstöße.

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