Gegen unendlich. Phantastische Geschichten 15 (herausgegeben von M. J. Awe & A. Fieberg, Teil 3)
|Die 15. Ausgabe des von Michael J. Awe und Andreas Fink herausgegebenen Kurzgeschichten Magazins „Gegen unendlich. Phantastische Geschichten“ erschien im Mai 2019. Hier ist der erste Teil dieser Besprechung zu finden, der sich auf die Kurzgeschichten der Ausgabe aus dem Bereich der Schauer- und Fantasy-Geschichten konzentriert. In einem zweiten Teil habe ich die apokalyptischen und dystopischen Erzählungen des Hefts betrachtet. In diesem Beitrag geht es nun zuletzt um die Science Fiction-Geschichten der Ausgabe.
Besonders spannend und berührend ist Matthias Webers Zeitspringer. Nachdem Jackie Terry verlassen hat, ist der junge Mann verzweifelt. Er meldet sich daher freiwillig als Agent der Zeitbehörde, seine Aufgabe ist es Menschen, die illegal durch die Zeitreisen zu töten. Dabei lebt er mit seinem sadistischen Partner für Jahre isoliert in einer Zeitblase. Die Welt ist originell und faszinierend. Vor allem aber gelingt Weber das Kunststück, die Geschichte zunächst in eine unrealistische, übersentimentale Richtung zu entwickeln (Jackie hat rasch ihren Fehler erkannt und reist durch die Zeit, nur um Terry wiederzufinden), nur um sie dann wieder in das Gegenteil zu verwandeln (Terry schickt mit einer Bombe Jackie und ihr ungeborenes Kind in eine unbekannte Dimension und versucht, ihnen nachzureisen). Die Gewalt der Erzählung, den Ekel, den Terry und die Freude seines Partners bei der Gewaltausübung sowie die kontrastierende innige Beziehung zwischen Terry und Jackie sind packend und bewegend. Da kann man auch darüber hinwegsehen, dass es ausgesprochen absurd erscheint, dass Jackie zwar herausgefunden hat, für wen und wo Terry arbeitet, aber scheinbar nicht, dass seine Aufgabe ist, alle Zeitreisenden zu erschießen und in eine unbekannte Dimension zu bomben.
Nele Sickels Im Neonlicht des neuen Tages und Norbert Fiks Abschied von Brontannasdé sind zwei sehr gelungene Beiträge. In der ersten Geschichte versucht ein selbstherrlicher Raumschiffkapitän, die Auswirkungen eines One Night Stands mit der neuen Pilotin zu begrenzen, indem er sie mit einer Rettungskapsel von Bord schickt. Die Frau weiß sich jedoch mit ihren eigenen Tricks zu wehren. Die Geschichte ist ausgesprochen kurzweilig und unterhaltsam in ihrer Beschreibung des eitlen und schwadronierenden Kapitäns, dem man sein Ende von Herzen gönnt. Die Leichtigkeit der Geschichte betont dabei gleichzeitig ihren beklemmenden Hintergrund, dass es zahlreiche Männer gibt, die genau so eitel und schwadronierend sind und allzu leicht glauben, über das Schicksal der mit ihnen in Kontakt gekommenen Frauen allein bestimmen zu können. Der glimpfliche Ausgang in dieser Geschichte dürfte in der Realität rar sein. Norbert Fiks beschreibt in Abschied von Brontannasdé einen One Night Stand einer anderen Art. Der Planet hat gerade und kurz nach einem angeblichen Kontakt mit Außerirdischen die irdische Allianz verlassen und sich einem anderen Bündnis zugewandt. Der Erdagent Gerrit Jansen wird daher abgezogen. Bei seinem letzten Barbesuch trifft er auf eine Frau, kehrt mit ihr in sein Hotel zurück und wird von der sich als Alien enttarnenden Person um seine Identität beraubt. Die Motive der Alien und warum sie die Erde erreichen wollen, bleiben unklar. Waren es in „klassischen“ (sprich: älteren) Science Fiction Stereotypen oft unachtsame Frauen, die einer Invasion oder Infiltration durch ihre Gefühle den Weg bereitet haben, so zeigt Norbert Fik hier spannend und atmosphärisch stark auf, wo der eigentliche Schwachpunkt liegt.
Partition von Gabriele Behrend und Arturs Erwachen von Lea Reif sind zwei gute Erzählungen um den technischen Fortschritt. In Partition erweckt Behrend eine Partition zum Leben, in einer für das Gerät lebensbedrohlichen Situation. Hier stehen Einzelteile vor der Frage, ob sie das Risiko einer Selbstaufopferung eingehen, um das System zu retten. Das faszinierende Setting und die interessante Gemeinschaftsform machen die Kurzgeschichte sehr lesenswert, auch wenn einige Abschnitte etwas zu abstrakt und vage bleiben. Lea Reifs Artur stirbt kurz vor dem Ende des 30-jährigen Kriegs in großer Sorge um das weitere Schicksal seiner ihn übrelebenden und ungeschützten Tochter Marianna. Nach seinem Tod wacht er in einem Krankenhaus wieder auf, sein Leben war nur eine Simulation. Die ihn begleitenden Ärzte schalten die Simulation, inklusive der von ihm bis vor kurzem noch geliebten Tochter Marianne kurz darauf ab. Sowohl die Sterbeszene im 17. Jahrhundert als auch das Aufwachen fesseln den Leser in ihrer jeweiligen Welt und regen zum Nachdenken über die Grenzen und die Zukunft von Computerspielen und -simulationen. Schließlich stellt sich irgendwann, je nach Entwicklungsstand der Simulationsfiguren die Frage, wer über die Abschaltung solcher geschaffenen Welten eigentlich entscheiden darf.
Zuletzt beschreibt Hans Jürgen Kugler in Freier Fall wie ein Astronaut in einem unbekannten Kontext mit einer Meteroitenkollission, die sein Schiff zerstört, umgehen muss. Am Ende befindet er sich in freiem Fall. Weder bei dem Unglück noch bei dem Absturz kann man die Emotionen und Aktionen des Astronauten wirklich nachempfinden. Das liegt vor allem an dem unspezifizierten Kontext der Reise und der völligen Unwissenheit über den Astronauten.
Diese 15. Ausgabe „Gegen unendlich“ ist meine erste Lektüre deutschsprachiger Science Fiction Magazine. Erst einmal ist der Anteil gelungener, weil gleichzeitig unterhaltsam und zum Nachdenken anregender Geschichten recht hoch. Das ist gerade angesichts der hohen Anzahl an Kurzgeschichten (insgesamt 19) eine große Leistung. Genau so überzeugend ist die große Vielfalt phantastischer Themen und Motive, die hier abgedeckt wird. Sie ist zwar nicht so divers wie an anderer Stelle besprochener, amerikanischer Best Off-Anthologien. Für eine einzelne Ausgabe eines Magazins ist sie aber beachtlich. Die Erzählungen konzentrieren sich jedoch hauptsächlich auf einzelne programmatische oder emotionale Abrisse und vermeiden, erdachte Welten und Charaktere intensiv zu erforschen. Dadurch überzeugen sie wenn eher mit ihren Ideen als mit ihrer Handlung. Dadurch strahlen die Geschichten mit komplexeren Welten oder ausgearbeiteteren Charakteren um so stärker (z.B. mit Wolf in der Steppe, Die Auserwählten, Zeitsprünge eine in jedem der drei von mir für diese Besprechung eingeteilten Abschnitte). Zuletzt sei gesagt, dass der Preis der Ebook-Ausgabe von 2,99€ angesichts dieser Qualität und Materialfülle ausgesprochen gering erscheint.