Das andere Ende der Geschichte (von Philipp Ther)

Nach der Wende wurde das von Francis Fukuyama postulierte „Ende der Geschichte„, der Glaube, dass die liberale Demokratie sich in systemischen Auseinandersetzungen als die bessere Staatsform durchsetzen werde, zu einem geflügelten Wort. In „Das andere Ende der Geschichte“ greift der Historiker Philipp Ther diesen Slogan auf und verbindet ihn mit dem Untertitel „Über die Große Transformation“ mit Karl Polanyis Werk. In seiner Analyse des Siegeszug des Kapitalismus erkannt Polanyi, dass die künstliche Verbreitung freier Märkte für ein erhöhtes Schutzbedürfnis nun unter kapitalistischem Druck stehender Teile der Gesellschaft sorgt. Jede Liberalisierung von Märkten sorgt daher für eine auf Sicherheit abzielende Gegenbewegung. Ther betont, dass diese Bewegung, nach links in Richtung eines ausgebauten Sozialstaats bzw. des demokratischen Sozialismus ausschlagen kann oder aber nach rechts in Richtung Abschottung und im schlimmsten Fall Faschismus. Derzeit gewinnt die rechte Bewegungnach einigen Jahrzehnten des Neoliberalismus die Oberhand. Thers Essays zeigen, dass dies keineswegs eine Entwicklung der vergangenen Jahre oder der Finanzkrise vor einem Jahrzehnts ist. In vier Essays behandelt beschreibt er die soziale und politische Entwicklung der USA seit den späten 80ern, Deutschlands seit der Wende, Italiens seit dem Aufstieg Berlusconis 1993 sowie Russlands und der Türkei seit den früheren 90ern.

Ther zeigt anhand der USA, Deutschlands und Italiens einen Rollenaustausch auf. Überspitzt zusammengefasst führten konservative Parteien die Ideologie des Neoliberalismus zum Sieg, wobei sie gleichzeitig massive Staatsschulden anhäuften. Die darauf folgenden linken Regierungen blieb angesichts des permanenten Vorwurfs, nicht mit Geld umgehen zu können, wenig anderes übrig, als zentrale sozialpolitische Ziele dem Mantra ausgeglichener Haushalte zu opfern. Das wiederum führte in allen Fällen zu ihrer Ablösung durch noch rechtere Kräfte, denen solide Staatsfinanzen und freie Märkte weitgehend egal und den ideologisch-völkischen Zielen untergeordnet sind. Die einzige glaubwürdige Alternative zum Etablissement wird nun von Rechts angeboten, auch wenn sie letztlich ihrer Wählerschaft keine wirtschaftlichen Alternativen anbietet, sondern in Regierungsverantwortung ihre ausgrenzende Ideologie vorantreibt oder gleich das Postengeschacher der vermeintlichen Mainstreamparteien fortführt.

Ther zeichnet diese Entwicklung seit den 1990ern in den drei Ländern differenziert und engagiert nach. Er beschreibt Ereignisse und hält sich mit Erklärungen weitgehend zurück. Das macht die Essays spannend und lesenswert. Dennoch drängt sich neben der schwachen Linken die Kraft der Enttäuschung als Erklärung auf. Schutz ist ein notwendiges Grundbedürfnis, nach dem Menschen suchen. Und während in den meisten Ländern die abgesicherte Mittelschicht für den Wahlsieg ausreicht, haben die wirtschaftlichen Schwierigkeiten seit dem Ende des Kalten Krieges verbunden mit einer dramatischen Liberalisierung für ein erhöhtes Schutzbedürfnis gesorgt, das verstärkt von Rechtspopulisten ausgenutzt wird. Vordergründig beschreiben die Essays den Aufstieg einer rechten, politischen Bewegung, die sich durch rechtspopulistische Ideologien und staatspolitische Unverantwortung auszeichnet. Gerade das Beispiel Italiens unter Berlusconi, aber auch die Haushaltsführung der Regierung Bush zeigen auf erschreckende Art wie verantwortungslose, kurzsichtige und vor allem selbstinteressierte Politik letztlich sozialpolitische Spielräume verengt und den schwächsten der Gesellschaft immer höhere Lasten aufbürdet. Und hierbei handelte es sich lediglich um Vorläufer ihrer radikaleren, heutigen Wiedergänger der Lega Salvinis und Donald Trumps. Gleichzeitig führen die Essays aber auch vor Augen, wie sehr die liberalen Eliten versagt haben. Während die konservativen Seite den Wert des gesellschaftlichen Zusammenhalts weitgehend durch die Marktgläubigkeit ersetzt hat und damit völlig unterschätzt hat, vernachlässtigte die sozialdemokratische bzw. sozialistische Seite den Aufbau Alternativer Ansätze zur Bekämpfung immer stärker werdender ökonomischer Ungleichheit und Unsicherheit.

Einen ähnlichen Fokus auf liberale Versäumnisse präsentiert der abschließende Essay zu der Entwicklung der Türkei und Russlands. Beide Länder strebten für eine Weile gen Westen bzw. in Richtung einer EU-Mitgliedschaft. Beide Entwicklungen wurden in westlichen Ländern intensiv diskutiert, allerdings ohne beide Länder in die Debatte einzubeziehen. Ther zeigt die Aneinanderreihung von Kränkungen, die die beiden sehr unterschiedlichen Länder in ihren (unterschiedlich langen) Orientierungsphasen gen Westen erlebt haben und die in Verbindung mit den autoritären Entwicklungen unter Putin und Erdogan zu den derzeitigen Spannungen geführt haben. Letztlich wird deutlich, dass Stabilität in den Beziehungen zu beiden Ländern nur durch mehr Dialog und mehr Verständnis möglich ist, ohne jedoch die Augen vor den Fehlentwicklungen (und Völkerrechtsverletzungen) zu verschließen. Auch in diesem Abschluss vermag Ther Weltpolitik mit der Lebensrealität russischer und türkischer Bürger zu verknüpfen und dadurch erklären, warum Möchtegerndiktatoren auch hier große Sympathien genießen: Sie nutzen unter anderem die empfundene Ablehnung durch den Westen aus.

Neben dem polanyischen Wechselspiel zwischen Liberalisierung und Reregulierung wiederholt Ther in jedem Kapitel, dass die aufstrebenden rechtspopulistischen und -extremistischen Bewegungen keineswegs nur eine Form der Politik sind. Er warnt, sie nur unter ihrer populistischen Art der Politik zu bewerten und konzentriert sich immer wieder auf die Inhalte ihrer Politik. Der Essayband warnt dadurch davor, sich nur auf die viel beschworene „Enttarnung“ von Populisten zu konzentrieren. Stattdessen ist es mit seinen vielschichtigen und spannenden Analysen der sozialen Ursachen hinter dem Wandel gesellschaftlicher und ordnungspolitischer Wertvorstellungen ein Plädoyer, die Attraktivität rechter Parolen zu verstehen und dadurch daran zu arbeiten, diese zu überwinden. „Das andere Ende der Geschichte“ hilft dabei, die Ursachen zu verstehen. Es hält sich allerdings mit politikpraktischen Lösungsvorschlägen angenehm zurück und überlässt das Nachdenken darüber seinen Lesern. Er lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass sich etwas ändern muss. In einem äußerst knappen Schlussparagraphen verweist Ther zum Beispiel darauf, dass angesichts der drohenden Klimakatastrophe die verbliebene Zeit, um von populistischer, völkischer Abschottungspolitik zu einer verantwortungsvollen, sozialen und globalen Politik zu wechseln, knapp bemessen ist. Nichts unterstreicht die Tragik der Situation so gut wie diese Beobachtung. Denn die vergangenen Jahre haben auch gezeigt, dass die Enttäuschung über die liberale Demokratie seit dem Siegeszug des Neoliberalismus möglicherweise durch sozialpolitische und gemeinschaftsorientierten Debatten begegnet werden kann, nicht aber mit nichtsdestotrotz notwendigen moralpolitischen und kosmopolitischen Auseinandersetzungen. Dieses Dilemma komplexer, zeitgenössischer politischen Debatten, die sich verstärkt agressiven Gegnern der liberalen Demokratie ausgesetzt sieht, unterstreicht dieser gelungene Band anhand von vier historischen Studien, die informativ und tiefgründig zum Nachdenken anregen und daran erinnern, dass es immer Alternativen zu entfesselten Märkten gab und daher wohl auch immer Alternativen zu rechtspopulistischen Ideologien geben wird. Wir müssen sie jedoch gemeinsam finden.

Add a Comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert