Das ferne Ufer (von Ursula K. Le Guin)
|(Die Rezension basiert auf der 2018 erschienen, neu illustrierten „Earthsea“-Gesamtausgabe.)
Die Magie der Erdesee ist in Gefahr. Doch nicht nur Zauberer verlieren ihre Kraft, Menschen vergessen wichtige Fähigkeiten oder liebgewonnene Lieder. Der junge Prinz von Enlad, Arren, sucht daher den wichtigsten lebenden Magier God, auch Sparrowhead genannt, auf. Gemeinsam brechen die beiden auf, um die Ursache der bedrohlichen Entwicklungen aufzuspüren. Die Reise wird für God ein Test seiner über die Jahrzehnte verfeinerten Fähigkeiten und für Arren eine ungeahnte Herausforderung für seinen Charakter.
Der mysteriöse Verlust aller Magie, aber auch vieler schöner Dinge, in der Erdsee gibt der Geschichte von Beginn an einen düsteren Unterton. God und Arren besuchen verschiedene faszinierende Orte, große und einste belebte Hafenstädte, Inseln, die sich auf die Seidenverarbeitung spezialisiert haben, und unberührte, naturbelassene Inseln. Überall finden sie deprimierende Zustände und zutiefst misstrauische Menschen. Erscheint zunächst fraglich, warum der Verlust magischer Kräfte für die Erdsee katastrophal wäre, wird rasch deutlich, dass die Welt ihre Seele zu verlieren droht. Letztlich droht den Bewohnern der Erdsee weniger der materielle Verlust von Ländern und Reichen, sondern in erster Linie der physische Verlust ihrer Hoffnungen und vor allem ihrer Freude. Das ist ein gelungenes, weil spannendes Szenario für den dritten Teil der Reihe.
Der Roman ist weitgehend aus Arrens Perspektive erzählt. Der junge Prinz sieht in God nicht nur den mächtigsten bekannten Magier, sondern gleichzeitig eine Vorbildfigur, einen Mentor und einen Helden. In dem Roman erlebt er eine Art Pupertät im Zeitraffer. Sieht er zunächst jedes von Gods Worten und Taten als die beste mögliche Option, so beschleichen ihn im Verlauf der Reise immer stärkere Zweifel. Das liegt zum Teil daran, dass Arren und God ebenfalls unter den Bann der mysteriösen, dunklen Kraft geraten. Es liegt aber auch daran, dass Arren sich an der gemächlichen, mysteriösen Herangehensweise Gods stört. Seine jugendliche Ungeduld zwingt ihn zu einer anderen Bewertung seines Heldens. Die größte Herausforderung für Arren ist daher, Sinn in den Taten eines älteren, aber auch weiseren Mannes zu sehen und sich selbst zur Vernunft zu zwingen, ohne seine jugendliche Energie dabei abzulegen. In gewisser Weise spiegeln sich darin die Herausforderungen, denen sich auch God als junger Mann stellen musste. Während God jedoch einen großen Fehler beging und im Anschluss um sein Überleben kämpfen musste, vermeidet Arren diesen großen Fehler und begibt sich auf einen andauernden, spannenden Kampf mit der Vernunft.
God wiederum versinnbildlicht die bereits im ersten Teil der Reihe aufgegriffene Kernbotschaft des Maßhaltens. Er verfügt über große Kräfte, hält sich jedoch mit ihrer Anwendung zurück, bis er das wahre Ausmaß der Bedrohung abschätzen kann. Die magische Welt ist aus dem Gleichgewicht geraten und je bewegter die Zeiten sind, desto zurückhaltender nutzt God seine Kräfte. Das ist ein starker Kontrast zu dem impulsiven und hochmütigen jungen Mann, als den man ihn kennen gelernt hat. Der Magier Cod, der sich im Verlauf des Romans als großer Gegenspieler entpuppt, ist dadurch ebenfalls ein Spiegel für God. Nach seinem großen Fehler, die Toten zu beschwören, hätte God leicht so enden können wie Cod. Nun muss er sich mit seinen einstigen Feinden verbünden, um Cod, einen noch größeren Feind zu bezwingen. Das ist von Le Guin in gewohnter Manier episch erzählt und führt zu einem ungewöhnlich hektischen und spannenden Finale.
Auf den ersten Blick wirken viele Motive wie Wiederholungen aus dem ersten Teil. Die Balance der Magie in der Erdsee, das Bezwingen der eigenen Impulsivität und das Abwägen und Reflektieren eigener Taten prägten „Der Magier der Erdsee„. Das neue Element in „Das ferne Ufer“ ist, dass die Menschheit hier mit einem falschen Versprechen (des ewigen Lebens) gelockt wird. Dieser uralte Traum vieler Menschen ist in ihren radikalen Auswirkungen das genaue Gegenteil der Philosophie der Abgewogenheit und entpuppt sich natürlich als Trugschluss und Teil eines bösartigen Plans. Arren vermag es mit großer Mühe den Verlockungen des Bösens zu entsagen. Dadurch wird er am Ende dieses Bildungsromans damit belohnt, dass er seinen eigenen (ausgesprochenen mächtigen) Platz in der Welt der Erdsee findet. „Das ferne Ufer“ erzählt dank Le Guins einzigartigem knappen und doch epischen Erzählton auf fesselnde Art von den Schwierigkeiten, einen verantwortlichen Weg zu finden, seine Kräfte und Fähigkeiten im Leben einzusetzen. God und Arren gelingt dies, wodurch beide die Grundlage für ein weiteres, glückliches Leben legen. Dadurch ist „Das ferne Ufer“ ein atmosphärischer und spannender Roman, der über die Verlockungen des Machtmissbrauchs nachdenkt und gleichzeitig mit einem gelungenen Abschluss für die erste „Erdsee“-Trilogie aufwartet.