GRM. Brainfuck (von Sibylle Berg)
|In Rochdale, einem Vorort Manchesters, grassiert die Armut. Immer mehr Jobs werden digitalisiert, die Mittelschicht rutscht ab. Die Sozialpolitik der Regierung steht jedem Armen Menschen ein Endgerät, also digitale Teilhabe zu. Wohlstand oder gar eine Zukunftsperspektive gibt es jedoch nicht. Stattdessen rutschen immer mehr Schichten in die von der Regierung als „selbstverschuldet“ titulierte Armut ab. Auf diese Art finden sich vier Kinder in einem Obdachlosenheim Rochdales wieder. Don wird von ihrer Mutter vernachlässigt und von den wechselnden Partnern ihrer Mutter misshandelt. Aufgrund eines Behördenfehlers endet die Familie im Obdachlosenheim. Karen ist hochbegabt und wird daher von ihren Brüdern miserabel behandelt. Ihr Mutter verliert aufgrund ihrer psychischen Gesundheit ihren Job. Auch die Familie endet im Obdachlosenheim. Hannahs Mutter stirbt nach einem Schusswaffenunfall, weil der behandelnde Arzt zunächst einen vermeintlich wohlhabenderen Mann behandelt. Die Trauer treibt ihren Vater in den Suizid und Hannah endet auf der Straße. Peter siedelt mit seiner Mutter aus Polen nach Rochdale. Als seine Mutter zwischen dem wohlhabenden Leben an der Seite eines reichen Russen und ihrem Sohn entscheiden muss, verlässt sie letzteren. Und so landet auch Peter auf der Straße. Während die Regierung die Sozialpolitik verschärft und im Mantel eines bedingungslosen Grundeinkommen die Daumenschrauben enger zieht, entdecken die vier Freunde die Kraft des Zusammenhalts. Gemeinsam ziehen sie nach London mit dem Plan, sich an ihren Peinigern zu rächen und die Gesellschaft trotz der totalitären Überwachung zu verändern.
„GRM“ zeichnet sich durch einen kurzen und prägnanten Schreibstil aus. Die Protagonisten haben eine geringe Aufmerksamkeitsspanne, das Leben ist so hektisch, dass keine Zeit für längere Gedankengänge bleibt. Das spiegelt sich in der Sprache wieder. Der Roman kommt ohne Kapitel aus, springt permanent zwischen den Charakteren hin und her und führt diese meist in kurzen Steckbriefen, die aus Überwachungsprotokollen stammen, ein. Emotionen sind in dieser Welt ein Luxus, den zwar jeder eigentlich hat, sich aber keiner mehr Leisten kann. Für die meisten bleibt zwischen Behördengängen, Selbstoptimierung, Angstanfällen und Selbstmitleid kaum Zeit für einen klaren Gedanken. Das Resultat sind Hass und Wut an jeder Ecke. Diese Wut wird gekonnt von der Regierung und den Reichen aufgenommen, gesteuert und in Selbstmordwellen, Progromen und so weiter umgewandelt. In der Folge richtet sich die Wut der Armen in erster Linie gegen sich selbst, da toxische Männlichkeit und gebrochene Ehre zu immer weiteren Gewaltorgien führen. Missbrauch, Gewalt und Hoffnungslosigeit sind an jeder Ecke zu finden und spiegeln sich in der hoffnungslosen, zynischen und klaren Sprache wieder.
Die eigentliche Geschicht edes Romans ist dabei auf brutale Art geradezu poetisch. Die vier Freunde wollen die Leute töten, die ihnen am meisten Leid und Schaden zugefügt haben. Dafür müssen sie selbst nur in wenigen Fällen Hand anlegen. Direkt töten müssen sie sowieso nicht, die unbedarft angewandte Technik erlaubt es ihnen, Menschen aus der Distanz den Garaus zu machen. Gleichzeitig verändert ihr Rachefeldzug die Gesellschaft und die vier Kinder zugleich. Ein erfolgreicher biologischer Anschlag verändert eine der Grundlagen der Gewalt. Das ändert wie die Gesellschaft miteinander umgeht, die existierenden Ausbeutungs- und Diskriminierungsmechanismen ändern sich dadurch jedoch nicht. Die Jugendträume werden zu Erwachsenenträume und am Ende haben alle vier Menschen eine Existenz gefunden, in der sie zwar unglücklich aber irgendwie auch weniger prekär als zuvor vor sich hin leben. Massenhafter Missbrauch – auf sexueller, gewalttätiger oder psychologischer Ebene – wird hier mit genau so kalter Gewalt beantwortet und schafft am Ende eine Situation in der Glück möglich und doch unerreichbar ist. Die Wut verfliegt, da sich der Mensch an vieles gewöhnen kann, doch das Leid bleibt.
„GRM“, so verkündet der Buchrücken, ist „keine Dystopie“. In der Tat arbeitet Berg regelmäßig reale Ereignisse unserer Welt in die Geschichte. „Es ist die Welt, in der wir leben. Heute. Und vielleicht morgen. Es wird nicht schlimm. Nur – anders.“ Diese realen Ereignisse sind immer erkennbar und reichen von dem Zurückfahren von Sozialleistungen über existierenden und systematischen Missbrauch Minderjähriger bis hin zu dem tatsächliche Fälle in Kauf genommenen Todes armer Menschen für Profitinteressen. Berg überspitzt diese Ereignisse und verbindet sie immer mit kühlen und gleichzeitig mitreißenden Schilderungen des Leids, das sie auslösen. Das ist mitreißend, liest sich wie ein Sozialporno und zeigt doch auf, dass nicht nur in „GRM“ jedweder Widerstand gegen Ausbeutungs- und Gewaltprozesse ausbleibt. So wie die Charaktere in „GRM“ die ihnen gegebene Welt hinnehmen, so gibt es in der realen Welt kaum noch Visionen, Träume oder einfach nur Solidarität mit denen, die weniger Chancen im Leben haben. „GRM“ schafft die notwendige Wut über diese Verhältnisse, über das dadurch entstehende, menschenunwürdige Leid, das in letzter Konsequenz vor keinem Entwicklungsstadium mehr halt macht.
Dadurch ist „GRM“ sowohl ein mitreißend spannendes als auch ein schrecklich bewegendes Buch. Gerade wegen des Zynismus, der Distanz und der Kälte fühlt man die nie ausgelebten Gefühle der zentralen Charakteren, aber auch der zahlreichen einprägsamen Randfiguren. Die Einblicke in die verschiedensten Abgründe der digitalen Gesellschaft, der Armut und der Wohlstandsverrohung machen „GRM“ zu einem Feuerwerk der Wut, das gleichzeitig die Hoffnung nährt, das Solidarität sei der einzige Ausweg aus dem Zyklus der Ausbeutung, und die Mechanismen aufzeigt, warum Menschen lieber nach unten treten als den Tritt von oben abwehren, was echte Solidarität nahezu unmöglich macht.