Der erste fiese Typ (von Miranda July)

Cheryl ist in ihren Mittvierzigern. Sie lebt seit langer Zeit allein, auf ihrer Arbeit wird ihr geraten, hauptsächlich von zu Hause aus zu arbeiten und ihre einzigen Freunde – ihre beiden Chefs – sind in erster Linie egozentrisch mit sich selbst beschäftigt. Über die Jahre hat Cheryl, getrieben von der Angst, die Kontrolle zu verlieren, geradezu einen Ordnungsfetischismus entwickelt. Außerdem himmelt sie seit Jahren den Mittsechziger Phillip an – der allerdings jüngst eine Liebesaffäre mit einer 16-jährigen begonnen hat. In dieser Situation platzt Clee, die unordentliche, arbeitslose und grimmige Tochter des Ehepaars für das Cheryl arbeitet, in ihr Leben. Bald beginnen Cheryl und Clee „Spielchen“ über die Deutungshoheit in der kleinen Wohnung. In diesem Prozess gerät Cheryls ganzes Leben in Unordnung. Aber am Ende – so verspricht es der Buchtext – wartet die „große Lebe ihres Lebens“.

„Der erste fiese Typ“ wartet mit einem Ensemble merkwürdiger und eigenartiger Protagonisten auf. Cheryl zum Beispiel hat nicht nur einen ausgeprägten Ordnungswahn. Sie stellt sich zudem bei vielen Babies vor, sie seien eigentlich ihre Seelenverwandte – das Resultat eines traumatisch, objektiv aber harmlosen Erlebnisses als neunjährige. Es ist schwer, sich in Cheryl einzufühlen. Auf der einen Seite sind ihre Wünsche sympathisch. Mit Mitte 40 sehnt sie sich nach der Liebe, was sehr verständlich ist. Anders als in der stereotypischen Frauenliteraturvorstellung nimmt Cheryls Suche nach der Liebe jedoch eine unerwartete Richtung. Die Zwänge um sie herum schaffen einen nicht lösbaren Knoten in ihrem Hals. Durch die Beratung ihrer reichlich schrägen Psychologin beginnt Cherly bald „Erwachsenenspiele“ zu suchen und findet diese in der gewalttätigen Clee. Gemeinsam prügeln sich die zwei Frauen durch die Wohnung, mal mehr und mal weniger ernsthaft. All diese Szenen schwanken immer zwischen faszinierenden Charakterzeichnungen und kompletter Absurdität.

Mit der Zeit bauen Cheryl und Clee immer mehr aufeinander. Zumindest für Cheryl bedeutet die neue Bezugsperson eine Möglichkeit, von ihren Phantasien für Phillip abzulassen. Aus Abneigung wird Zuneigung, aus tatsächlicher Gewalt, gespielte Gewalt. Der Leser erfährt die Ereignisse dabei ausschließlich aus Cheryls Sicht. Daher ist man sich nie ganz sicher: Erlebt man hier tatsächlich wie zwei ausgesprochen unterschiedliche Frauen zueinander finden oder ist man eher dabei wie das Opfer einer ungewollten, unordentlichen Mitbewohnerin sich mental mit dem dadurch angestifteten Chaos arrangiert oder gar die ihr zugefügte Gewalt rechtfertigt. Der erste fiese Typ stellt sich nämlich letztlich als ausgesprochen unmännlich heraus: Die Gewalt zwischen den Frauen schaukelt sich immer weiter hoch und wird erst durch Clees Schwangerschaft nach einem One-Night-Stand, den sie Clee aus wie sich letztlich herausstellt guten Gründen verschweigt, unterbrochen.

Und ab diesem Ereignis schlägt das Buch neue Töne an. Clee und Cheryl sind nun noch stärker aufeinander angewiesen, da Clees Eltern und damit Cheryls Vorgesetzte lautstark für eine Abtreibung statt einer Adoption plädieren. Im Laufe der Handlung wird aber immer deutlicher, dass die Schwangerschaft zwar Clee beeinträchtigt, aber Cheryls Leben verändern wird. Dies ist in einem atemberaubenden Tempo dargestellt: Hatte Cheryl in der ersten Hälfte des Buches große Probleme sich an die kleinsten Veränderungen in ihrem Leben anzupassen, rast sie nun mit den Ereignissen mit. Ihre seit Jahrzehnten gehegten Sehnsüchte spiegeln sich in der Schwangerschaft Clees und dem Kind wieder. Am Ende ist der Zusammenhalt und vielleicht sogar das Glück zwischen Clee und Cheryl nicht von Bestand, Clee stellt sich als der stereotype, egozentrische und vor allem fiese Typ heraus, was Cheryls Sicht auf die Ereignisse noch weiter in Zweifel zieht. Und doch bleibt für Cheryl das Kind und viel Liebe zurück.

Dieser Mix aus skurrilen Protagonisten, die irgendwie bemitleidenswert und doch beeindruckend sind, einer Erzählperspektive, der man nicht wirklich vertrauen kann, und einer gewalttätigen, intensiven und letztlich bedeutungslosen Nicht-Liebesbeziehung aus der dennoch ein Kind hervorgeht ist verwirrend, auf eigenartige Weise berührend und bleibt mit seinen schrägen und doch emotionalen Momenten nicht nur in Erinnerung, sondern regt zu Gedankenspielen über die vielen Facetten fieser Typen ein.

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