Too like the Lightning (von Ada Palmer)

Viele Jahrhunderte in der Zukunft. Die Menschheit hat sich nach verheerenden Religionskriegen wieder aufgerappelt. Fliegende Autos ermöglichen es, gesteuert von Hochleistungscomputern, innerhalb kürzester Zeit um die Erde zu reisen. Die fehlenden Distanzen machen Nationen überflüssig. Menschen wählen sich ihre ideelle Heimat, ihren „Hive“ nun selbst. Durch Konzentration gibt es sieben große Hives: Das Imperium der Mansons, der größte Hive, das Direktorat der Mitsubishi, denen das meiste Land gehört, die Humanisten, bei denen individuelle Ambitionen im Mittelpunkt stehen, die Cousins, die einst Minderheiten vertraten, die Europäer mit einem starken Gefühl für Tradition, die Gordianer, die sich der Wissenschaft verschrieben haben und die Utopier, die die technische Entwicklung vorantreiben. Zwischen den Hives herrscht Frieden, religiöse Organisationen ist verboten, jeder Mensch erhält jedoch einen Wegweiser zur Seite, mit dem er oder sie über religiöse Fragen diskutieren kann und die Geschlechter und ihre Unterschiede sind aus der Sprache und der gesellschaftlichen Diskussion gänzlich verschwunden. In dieser Situation wird Carlyle Foster der neue Wegweiser („Sensayer“) für die Saneer-Weeksbooth Familieneinheit, die für die Steuerung der Autos verantwortlich ist. Die Geschichte wird von dem einstigen Verbrecher und nun hivelosem Sklaven Mycroft Canner erzählt. Er hütet das Geheimnis der Saneer-Weeksbooth: Bridger, ein Junge, der über übermächtige, geradezu gottgliche Fähigkeiten verfügt. Mycroft ahnt sofort, dass dies die Balance auf der Erde mächtig durcheinanderbringen wird.

Palmer betreibt in „Too Like the Lightning“ beeindruckendes „World Building“. Die Hive Struktur verändert die Menschheit grundlegend. Die Prioritäten sind gänzlich unterschiedlich als heutzutage und durch die veränderten Geschlechtsvorstellungen haben sich auch Interaktionen zwischen Menschen grundsätzlich verändert. Gleichzeitig bleiben alte Angewohnheiten jedoch bestehen. Weiterhin gibt es Abneigung gegen Mitglieder anderer Gruppen und Unverständnis über andere Lebensweisen, z.B. über unterschiedliche Wertvorstellungen in anderen Hives. Diese Mischung ist sehr gelungen. Stück für Stück gelingt es beim Lesen, sich in die Welt Palmers einzudenken. Das ist angesichts der verwinkelten Erzählstruktur alles andere als leicht. Andererseits gewinnt man so einen schrittweisen, phantastischen Blick auf diese gleichzeitig freiheitlich-friedlich wie autoritär-unterdrückende Zukunftsvision.

Der zweite gelungene Kniff ist die Erzählperspektive. Der Leser nimmt den Blick eines Servicers, also eines verurteilten Verbrechers ein. Und dabei hat man es nicht mit irgendeinem Halunken zu tun: Mycroft Canner ist bekannt als letzter Massenmörder der Menschheit, die meisten lebenden Menschen wünschen ihm den Tod. Auch dies erfährt man erst in der zweiten Hälfte des Romans. Bis dahin erlebt man vor allem die Zwänge des besitzlosen Servicer-Daseins, ab da erfährt man auch die Abscheu, die Canners Existenz bei allen Lebewesen hervorruft. Der Blickwinkel aus der Perspektive des vielleicht rechtlosesten Individuum auf der Erde ist sehr interessant.

Der dritte überzeugende Aspekt sind die inzestuösen Intrigen in dieser Zukunftswelt. Die Leiter der verschiedenen Hives sind sich über die Jahre immer näher gekommen. Im Laufe des Romans stellt sich heraus, dass sie auch familiär und amourös miteinander verwoben sind. Das müsste eigentlich zu konstruiert erscheinen. Palmer gelingt es aber, dieses überaus komplizierte Schachspiel glaubwürdig in Szene zu setzen. In jedem Kapitel erfährt der Leser ein kleines Detail mehr, das am Ende zu einer überaus komplizierten wie einfallsreichen Klüngelei im Sinne des Weltfriedens führt. Das baut sich langsam auf, präsentiert viel altrömische Dekadenz und schafft in Verbindung mit einigen religiösen Motiven ein detailliertes Zukunftsmosaik.

Allerdings geht das Ganze leider viel zu langsam voran. In dutzenden Handlungssträngen, mit vielen Herrschaftsfiguren und einfachen Hive-Bürgern, die aber alle irgendwie mit dem immer überlasteten, immer gestressten Mycroft zusammenarbeiten, verliert man sich sehr leicht. Die Stimmung überzeugt: Man hat das Gefühl wie am Vorabend des ersten Weltkriegs einer funktionierenden Welt kurz vor der Implosion zuzuschauen. Das Tempo stimmt dabei aber nicht. Die Ereignisse überschlagen sich in keinem Moment. Stattdessen verliert sich der Roman in einer endlosen Arie an Andeutungen, die aber zu keinem Zeitpunkt zu einem Wirbel zusammenkommen. Natürlich spitzt sich die Handlung am Ende des Romans zusammen und irgendwie steht der Frieden der Welt auf dem Spiel. Aber letztlich ist die Welt zwar detailliert ausgearbeitet, über die eigentliche Intrige beziehungsweise die Gefahr für den Frieden weiß man dann aber doch zu wenig, um wirklich mitgerissen zu werden.

Selbiges gilt leider auch für Palmers Protagonisten. Es gibt so viele Namen, Herrscher und Nebenfiguren zu lernen, dass man immer wieder den Überblick verliert. Palmer webt trotz der ausgesprochen abstrakten Makrohandlung viele Einzelschicksale in ihren Roman ein. Doch für diese Charaktere kann man kaum Sympathien aufbauen, sie erhalten schlichtweg zu wenig Platz im Roman, um sich wirklich zu entwickeln. Das gilt sogar für Mycroft. Er ist immer dabei. Doch sein Erzählstil ist geschwollen und umständlich, sodass man sich beinahe über die Kapitel freut, in denen seine Perspektive abwesend ist. Hier hätten weniger Charaktere geholfen, um dem Roman Figuren zu geben, mit denen man mitfiebert.

„Too Like the Lightning“ ist ein beeindruckendes und ambitioniertes Projekt, dem es gelingt, eine sehr fremde Welt überzeugend aufzubauen und den Leser in eine andere Denkweise zu entführen. Über die Länge des Romans gelingt es sehr gut: Die Fremdartigkeit weicht langsam aber sicher einer merkwürdigen Vertrautheit mit dieser durchgeplanten und gleichzeitig anarchischen Zukunftsvision. Leider bleiben in diesem Projekt sowohl die Handlung, und dabei vor allem das Handlungstempo, als auch die Charakterentwicklung auf der Strecke. „Too Like the Lightning“ beeindruckt mit seinem „World Building“; es fehlen trotz dieses beeindruckenden Hintergrunds aber schlicht Ereignisse und Sympathieträger, um zu unterhalten.

Add a Comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert