Archipel (von Inger-Maria Mahlke)

Rosa Bernadotte Baute kehrt 2015 desillusioniert von ihrem Kunststudium auf dem spanischen Festland in ihre Heimat auf Teneriffa zurück. Inmitten der spanischen Wirtschaftskrise bietet sich ihr hier ein tristes Bild: Die Insel ist von Touristen überlaufen, die Politik korrupt und vor allem ihre Familie zerrüttet. Ihre Mutter Ana versucht als konservative Politikerin Karriere zu machen, stolpert jedoch gerade über einen handfesten Skandal. Ihr Vater Felipe war einst ambitionierter Historiker, der sich kritisch mit der faschistischen Geschichte seiner Familie auseinandergesetzt hat – bis genau dieser Familienhintergrund ihm die Karriere zerstörte. Nun ist er in erster Linie dem Alkohol verfallen. Rosas Großvater Julio wiederum hütet noch als 90-jähriger die Pforte eines Altenheims und meidet dabei seine Familie wo immer es geht. Und dann ist da noch die Haushaltshilfe Eulalia, die von allen übersehen wird – auch von ihrer eigenen Mutter. Jedes Familienmitglied ist sich dadurch mehr oder weniger bewusst, in einer Sinnkrise zu sein. Und gleichzeitig sind alle gänzlich auf sich allein gestellt – wie auch schon die beiden vorherigen Generationen.

„Archipels“ Protagonisten haben kein Ziel. Auf Teneriffa suchen sie nach dem Sinn des Lebens. Mit der Generation, mit der der Roman im Jahr 2015 startet, erlebt der Leser eine gescheiterte Karriere, eine scheiternde Karriere und eine verlorene Studentin. Das Ensemble entwickelt schnell ein hohes Maß an Spannung. Die detaillierten Beschreibungen fangen den interessanten Kontrast zwischen der verfallenden und erstarrten Villa der Bernadottes mit seinen noch jungen Bewohnern und dem ebenfalls in die Jahre gekommenen Altersheim mit seinen sehr alten Bewohnern sehr gut ein. Die gesamte beschriebene Familie besteht nicht aus Sympathieträgern, mit Ausnahme von Julio handelt es sich aufgrund des materiellen Reichtums der Bernadotte um nichts außer der eigenen Unsicherheit und Ziellosigkeit sorgenden Menschen. Dennoch fühlt man mit den gut beschriebenen und in ihren Schwächen und Eigenarten detailliert ausgeschmückten Charakteren. An dem Moment, wo jedes Familienmitglied vor einer mehr oder weniger wichtigen Entscheidung steht, springt der Roman einige Jahre zurück.

Auf diese Weise gräbt sich „Archipel“ immer weiter in die verzweigte Familiengeschichte der Bernadotte und Bautes zurück. Immer wieder bricht die Handlung an den entscheidenden Stellen ab, springt wieder ein paar Jahre zurück. Der Leser konstruiert sich so verkehrt herum eine Kausalkette, die nachzeichnet, wie der Faschismus und falsche Liebesentscheidungen von Generation zu Generation weitergereicht werden. Dabei geschieht den im Spanischen Bürgerkrieg auf der „falschen“, weil verlierenden Seite stehenden Protagonisten wie Julio physisches Leid, das von nachfolgenden Generationen nicht mehr verstanden wird. Doch auch die anderen Charaktere leiden an den Regeln der Gesellschaft, Depressionen und vor allem der Unfähigkeit, miteinander umzugehen.

Diese Erzählweise verlangt dem Leser viel ab. Historische Ereignisse werden nicht erklärt und aufgrund der langen Namen und komplexen Familienbeziehungen zieht man immer wieder das Personenregister zu Rat – und übersieht dann doch viele Querverweise über die Jahrzehnte. Belohnt wird man aber mit einem faszinierenden, bewegenden und spannenden Panorama, das von 1919 bis 2015 nachzeichnet wie Individuen von den Traumata, politischen Entscheidungen und Depressionen ihrer Eltern und Großeltern geprägt werden. Dazwischen blitzen immer wieder Hoffnung und die Sehnsucht nach einem Sinn im Leben auf. Doch jeder Ausbruchsversuch einer jeder Generation scheitert entweder an sich selbst oder der Gesellschaft und schafft so weitere Traumata.

Der sich in der Zeit zurückbewegende Erzählstil lässt viel Spielraum zur Interpretation, welche Ereignisse haben was beeinflusst. Das wird auch dadurch begünstigt, dass sich der Leser viele Ereignisse selbst zu Ende denken darf. Dieser Mix ist nicht nur fesselnd: Er hinterlässt den Leser auch mit eindringlichen und nachdenklichen Bildern davon, wie viel Leid Menschen und vor allem Familien einander und vor allem sich selbst durch Nichtkommunikation und Entscheidungsunlust antun können. Außerdem regt er zu Gedanken darüber an, wie die Hoffnungen der Charaktere trotz der brutalen gesellschaftlichen Umstände des faschistischen Spaniens der Vergangenheit und bankrotten Spaniens der Gegenwart umgesetzt werden könnten und somit zur Reflexion darüber wie das ständige Weiterreichen von Leid und Unzufriedenheit wohl überwunden werden könnte.

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