Vernon Subutex 1 (von Virginie Despentes)

Vernon war ein heimlicher Star im Hintergrund der Pariser Rockszene in den 1980er und 1990er Jahren. Sein bekannter Musikladen lief wie am Schnürchen – bis zur digitalen Revolution. Vernon musste ihn irgendwann schließen und finanzierte sich jahrelang über den Verkauf von Devotionalien, Gelegenheitstätigkeiten und Arbeitslosengeld. Doch im selben Tempo wie seine erfolgreicheren Freunde durch Unfälle und Krankheit sterben, geht Vernon das Geld aus. Und so setzt der Roman zum Zeitpunkt seiner anstehenden Wohnungsräumung ein. Vernon hat allerdings noch eine letzte Hoffnung. Ein berühmter, mit ihm befreundeter Rockstar ist jüngst verstorben, hat ihm aber wertvolle Videoaufnahmen mit Teilen seiner Autobiographie hinterlassen. Vernon gedenkt diese zu Geld zu machen, zieht aber erst einmal von Freund zu Freund, um überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Letztlich führt ihn dieser, passive Weg auf die Straße.

„Vernon Subutex“ ist in ein Episodenroman. Vernon zieht von einem Bekannten zum Nächsten. In jedem Fall liest der Leser den Besuch immer auch aus der Perspektive der besuchten Person. Das ist zunächst etwas verwirrend, es scheint zunächst als ginge es dem Roman um eine einheitliche Erzählung, Vernons zukünftiger Lebensweg. Despentes nimmt den Leser jedoch rasch an die Hand und zeigt, dass es um etwas ganz anderes geht. Denn auf Vernons Weg in die Obdachlosigkeit zeichnet sie ein buntes Bild verschiedenster Gestalten.  Von der vereinsamten Frau, die angesichts Vernons ihren Hass auf diejenigen, die sie einst links liegen ließen wieder entdeckt, bis hin zu Pornostars, rassistischen Filmemachern und ihren depressiven Müttern präsentiert Despentes ein Panorama, dass durch seine Vielfältigkeit und Vielstimmigkeit Spannung und Tempo erzeugt. Vernons (Um)Welt wird mit jedem Kapitel, mit jeder weiteren Station komplexer.

Mit jedem Besuch erzählt Despentes ein mehr oder weniger eindringliches Schicksal, sodass sich jeder (einstige) Freund rasch in einen komplexen Charakter verwandelt. Dazwischen wirkt Vernon eigenartig antriebslos und resigniert. Denn jeder seiner Bekannten kämpft irgendwie und irgendwo mit dem Leben und den vielen Schwierigkeiten und Stolpersteinen, die dieses bietet. Aber anders als Vernon hat niemand den Kampf aufgegeben, sondern versucht in seiner / ihren eigenen Nische sich etwas Glück zu erarbeiten. Bei Vernon kommt einzig durch die Begegnung mit einer brasilianischen Transsexuellen zu so etwas wie einem Wunsch nach mehr. Doch selbst in dieser Situation kann er sich nicht dazu durchringen, seinem Schicksal anders als passiv gegenüberzutreten.

Und so geht Vernon Subutex doppelt ins Mark: Auf der einen Seite stehen die überzeugenden Einzelschicksale, Menschen, die sich zwar mit ihrer oft unglücklichen Situation abgefunden haben, aber von ihrem Leben noch mehr wünschen, und auf der anderen Seite Vernon, der sich seinem Schicksal so ergeben hat, dass er seine Erwartungen auf ein Minimum reduziert hat. Das führt zu einer Reihe berührender Szenen und in der Verwebung der einstigen alten Bekannten am Ende doch einen zusammenhängenden Episodenroman, mit viel Gefühl, Absurdität und Abgründen hinter denen immer viele (enttäuschte) Hoffnungen stehen.

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