Mit der Faust in die Welt schlagen (von Lukas Rietzschel)

Philipp und Tobias werden kurz nach der Wende in einem kleinen Ort in Sachsen geboren. Sie erleben die großen Hoffnungen nach der Wende, den Hausbau ihrer Eltern und ihrer Nachbarn mit. Gleichzeitig erleben sie aber auch die enttäuschten Hoffnungen, Selbstmorde in der Gegend und die permanente, relative Armut, mit der ihre Eltern aber auch die meisten Nachbarn zu kämpfen haben. Im Laufe der Zeit gesellen sich zerrüttete Familienverhältnisse, ablehnende Lehrer und schlechte Jobperspektiven dazu. Durch die Freundschaft zu Älteren kommen die beiden mit der Naziszene in Kontakt. Und indem die Welt immer unsicherer wird, steigt das Bedürfnis, wenigstens die eigene Region unter Kontrolle zu behalten – und vor allem vor Ausländern frei zu halten.

Der Klappentext des Romans verrät (wie bereits der Titel), dass am Ende einer der beiden Brüder resigniert und der andere „ein Ventil für seine Wut“ sucht. Erklärt der Roman dadurch, wie ein junger Mensch zum Nazi wird? Eindeutig kann dies natürlich nicht gelingen. Dafür stehen zu viele Erklärungsfaktoren von Armut und gesellschaftliche Ablehnungen über Verunsicherung angesichts der Weltpolitik und einer zerbrochenen Familie im Raum. „Mit der Faust in die Welt schlagen“ gibt aber ein Gefühl dafür, wie solch ein Radikalisierungsprozess ablaufen könnte. Neben all den obigen Faktoren gesellt sich ein starker Alltagsrassismus in die Worte des kleinen sächsischen Mikrokosmos. Für Staus sind selbstverständlich die Polen schuld, an Drogentoten die Tschechen, an den meisten weltpolitischen Dingen die Amerikaner. Für jede Lebenslage findet sich jemand, der dafür verantwortlich gemacht werden kann, dass es mit diesem Teil Deutschlands nicht bergauf geht. Gleichzeitig erfahren Philipp und Tobias in der Schule angesichts der einfachen Herkunft ihrer Eltern Ablehnung, haben letztlich niemand an den sie sich mit ihren vielen Fragen wenden können und werden in ihren Wünschen nicht ernst genommen.

Gerade diese Szenen, mit den verunsicherten Kindern und Jugendlichen, sind sehr stark. Der jüngere Tobias ist zum Beispiel begeistert von Vulkanen. Der ältere Philipp möchte bei einer Malaktion in der Schule daher einen ausbrechenden Vulkan auf ein Tor malen, um dem kleinen Bruder seinen Schuleinstieg zu versüßen. Dabei trifft er auf die brutale Ablehnung der Lehrerin, die in freundlichster Stimme, die Stimmung der Klasse gegen Philipp dreht; der Vulkan wird übermalt. Diesem Gefühl des Misslingens und Missverstehens setzt Rietzschel durch Ereignisse wie den 11. September immer mehr Fragen gegenüber. Außerdem verschlechtert sich die Situation der beiden zunehmend. Die Eltern trennen sich, die Wohnung wird kleiner. Die Großeltern werden älter, der Schrebergarten wird an eine ausländische Familie abgegeben. Die Ausbildung ist zu Ende und das Job ist nicht nur anstrengend, sondern bietet auch keine Perspektive. Die daraus resultierenden Gefühle werden nie zu direkt beschrieben, aber durch knappe Kapitel, mit prägnanten Aktionen so stark verdeutlicht, dass viele der Kurzkapitel starke Eindrücke hinterlassen.

„Mit der Faust in die Welt schlagen“ überzeugt auch mit seinen starken Charakteren und ihrer Dynamik. Auch neben Philipp und Tobias werden viele Personen in skizzenhaften Beschreibungen durch starke Szenen rasch lebendig. Sehr stark sind zudem die Gruppendynamiken, die der Roman beschreibt. Philipps Drang, sich seinem kleinen Bruder gegenüber zu beweisen, sein Wunsch nach Anerkennung, bringen ihn mit einer Naziclique in Kontakt. Auch hier vermenschlicht Rietzschel jede Situation. Jedes Mitglied der Gruppe hat seine eigenen Schwierigkeiten im Leben, die durch die Gemeinschaft der Clieque etwas verbessert wird. Die Dynamik ist wie ein Sog, der dazu führt, dass unreflektiert und meist ohne tatsächliches Wissen dahinter Nazigut reproduziert wird, bis es zu spät ist. All das lebt von der Beziehung zwischen den Protagonisten, dem sehnsüchtigen Wunsch nach wenigstens etwas Anerkennung in einer perspektivlosen Situation.

Der Roman ist dadurch fesselnd und nachdenklich zugleich. Die kurzen Kapitel lassen den Leser immer wieder innehalten. Philipp und Tobias Entwicklung in die Resignation und die Wut ist eindringlich festgehalten, die Nebencharaktere hinterlassen einen bleibenden Eindruck und fast jede Szene berührt auf die ein oder andere Art. Das macht „Mit der Faust in die Welt schlagen“ zu einem eindrucksvollen, spannenden und emotionalen Erlebnis.

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