Das achte Leben (für Brilka) (von Nino Haratischwili)

Georgien 1900: Stasia wird als Tochter eines wohlhabenden, jedoch bürgerlichen Schokoladenfabrikanten geboren. er ist im Besitz eines Rezeptes für heiße Schokolade, das ungemein verführerisch ist, den Trinker jedoch geradezu süchtig nach der Schokolade werden lässt. Außerdem ist er fest davon überzeugt, dass das Rezept verflucht ist und dem Trinker großes Unglück bringt. Stasia weiß davon zunächst nichts, verliebt sich in jungen Jahren in den ansehnlichen Soldaten Simon Jaschi. Doch in den Wirren der Revolution schließt sich ihr Gatte der Roten Armee an. Damit hat er die richtige Seite gewählt, überlebt die Unruhen. Stasia kann sich mit dem militärischen Lebensstil jedoch nicht anfreunden. Während sich das Ehepaar voneinander entfernt, der Gatte in der Kaserne verweilt, erlebt Stasia den tristen und doch tragischen Sowjetalltag in Georgien. Dabei verliert sie ihre besten Freunde. Der Roman zeichnet neben Stasia die Geschichte von sechs weiteren Familienmitgliedern nach. Stasias Halbschwester Christine (*1907) ist von dem unbändigen Willen, ihren sozialen Status auch durch die Revolution zu retten, besessen und zahlt dafür einen hohen Preis – der die Familie jedoch viele Jahr über Wasser hält. Stasias Kinder Kostja (*1921) und Kitty (*1924) stehen die längste Zeit im Mittelpunkt des Romans. Während Kostja seinem Vater nacheifert und dadurch nicht nur zum (traumatisierten aber gefeierten) Kriegsheld wird, verliebt sich Kitty in den Nachbarsjungen. Als dieser zum Nationalisten wird, im zweiten Weltkrieg gar für die Nazis kämpft, zahlt sie den Preis für den Verrat. In der Folge wird sie nicht nur brutal misshandelt, sondern muss als vermeintliche Dissidentin auch das Land verlassen. Während Kostja seine Bürokratenkarriere aufbaut, lernt Kitty im Westen die Freiheit zwar zu schätzen, sieht sich jedoch ihrer Wurzeln beraubt. Während Stasias Kinder somit mehr Leid erfahren als ihre Mutter, reichen sie die Verletzungen und Traumata an ihre Kinder weiter: Auch die darauf folgenden Generationen, Kostjas Tochter Elene (*1953), deren beide Töchter Daria (*1970) und Niza (*1973) und zuletzt die im Titel erwähnte Tochter Darias Brilka (*1993) können sich der Brutalität des von bürokratischem Terror, steigender Korruption und zunehmendem Solidaritätsverfalls geprägten Georgien nicht entziehen.

„Das achte Leben (für Brilka)“ ist ein 1.300 Seiten starker Epos, der das gesamte 20. Jahrhundert aus der Sicht einer georgischen Familie Revue passieren lässt. Überdeutlich wird dabei die Tragik und die Brutalität dieser Zeit. Alle Charaktere des Romans träumen. Sie haben große Vorstellungen und Erwartungen an die Zukunft, gestärkt durch ihre Intelligenz und ihr Talent. Doch mit jeder Generation merkt man, wie die gejagten Träume kleiner werden. Scheint zunächst alles noch zum Greifen nah, so zerstört das kommunistische System, die Nomenklatura, die Brutalität und am Ende die Korruption und Starrheit der im System gefangenen Menschen alles. In „Das achte Leben“ wird der bornierte Ideologe mit gesicherten Verhältnissen (nicht mit der Erfüllung seiner Träume) belohnt, der Träumer hat hier keinen Platz.

Sieben der acht Schicksale in diesem Roman sind Frauencharakteren vorbehalten. Es sind allesamt starke Figuren, häufig intelligenter, wilder und tatkräftiger als ihre männlichen Gegenüber. Sie halten viel aus, wollen viel und sie fühlen stark. Und doch sind die Handlungsträger, die Entscheidungsträger allesamt Männer, die mit Macht und Gewalt über das Schicksal der Frauen der Familie herrschen. Sie entscheiden, ob sie der Revolution beitreten, bzw. sich dem sowjetischen Großprojekt entziehen. Sie geben die Anweisungen bei (un)gewollten Schwangerschaften, bei der Zukunftsplanung und der Erziehung. Die Frauen tragen in der Regel die brutalen Konsequenzen der männlichen Fehler. An jeder Situation wachsen die Protagonistinnen, lernen ihre wichtigsten Wünsche genau so kühl und brutal durchzusetzen wie die Männer der Handlung. Und gleichzeitig ist die stete Resignation bei gleichzeitigem Ringen um wenige Momente des Glücks in „Das achte Leben“ ausgesprochen packend und mitfühlend beschrieben.

Der größte Gegensatz innerhalb der Familie liegt in der zweiten Generation: Kostja eifert seinem Vater nach, Kitty wird ungewollt zur Dissidentin. Der eine wird durch den Krieg, militärische Experimente und einer verflossenen Liebe traumatisiert, die andere durch Folter, eine erzwungene, brutale Abtreibung und Exil nicht nur traumatisiert, sondern auch noch in eine Depression gestürzt. Während Kostja immer wieder Chancen auf Glück erhält, sie aber konsequent durch ideologische Borniertheit verschmäht, ist Kitty zwar als Sängerin im Westen erfolgreich, erlebt privat jedoch eine Enttäuschung nach der anderen. Beide geben ihre Verletzungen an die nächsten Generationen weiter. Ihre Unfähigkeit über die Lektionen ihrer vergangenen Träume zu reden – sei es wegen der räumlichen Trennung des Exils oder falschen Loyalitätsvorstellungen – legt den Grundstein für ein Gebäude des Schweigens, das von Stasias und später auch Christines Stille noch unterstützt wird. Dies rückt auf eindringliche Art die Frage in den Mittelpunkt, was unausgesprochene Verletzungen, Geheimnisse und Traumata aus einer Familie machen. In „Das achte Leben“ wird das Aufwachsen jeder Generation etwas restriktiver. Und obwohl einige offene Worte und die – auf unterschiedliche und oft ungesunde Arte – immer vorhandene Liebe der Familienmitglieder zueinander, viele Schicksalsschläge verhindern könnten, führt das Schweigen zu viel Leid. Es entsteht ein Kumulation des Schmerz, der sich von Generation zu Generation ungewollt vererbt.

Haratischwili verwebt dieses Familienepos gekonnt und spannend mit der sowjetisch-georgischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die vielen Umbrüche dieses Jahrhunderts, sowie die Rolle georgischer Führer in der Sowjetunion werden pointiert aufs Korn genommen, die Gräuel des Kommunismus brutal dargestellt. Das ist spannend und zeigt an vielen Stellen wie auch der stärkste Charakter hilflos gegenüber einem grausamen System ist. Denn trotz der spannenden historischen Handlung lebt der Roman von seinen überzeugenden Protagonisten, die allesamt mit großer Not konfrontiert werden. Dabei sind nicht immer nur die totalitären Machthaber für das Familienunglück verantwortlich. Jedes Familienmitglied verletzt aus Eifersucht bewusst oder unbewusst ein anderes. Teilweise ähneln die Auseinandersetzungen seichten Fernsehserien. Doch Haratischwili entwickelt klar die Konsequenzen kleiner Verletzungen, die über die Jahre brutale Konsequenzen bis hin zu häuslicher Vergewaltigung, die anschließend auf brutale Weise auf dem Opfer abgeladen wird, mit sich bringen.

Die Erzählstimme des Romans ist Niza Jaschi (das „siebte Leben“), die die Familiengeschichte der in jungen Jahren von zu Hause geflohenen Brilka (das „achte Leben“) schildert, um sie auf der einen Seite mit dem angesammelten Leid der Familie vertraut zu machen, sie aber andererseits davon zu befreien. Dabei wird in dem starken Gegenwartsteil am Ende des Romans deutlich, dass Niza Brilka ebenfalls nicht geben kann, was diese sich wünscht. Obwohl sie die Entwicklung ihrer Familie klar vor Augen sieht, ihrer Nichte nur Gutes wünscht, verhindern ihre Verletzungen, dass sie sich in ihre Nichte einfühlen kann. Die Erzählung ist sozusagen ein epischer Versuch, dies wieder gut zu machen. Ob dies gelingt, bleibt bis zum Schluss unklar: Können 100 traumatische Jahre in einer Familie allein durch Kommunikation aufgehoben werden?

„Das achte Leben (für Brilka)“ hangelt sich fesselnd von einem Abgrund zum nächsten. Die beinahe 1.300 Seiten des Romans umfassen sieben eindringliche und bewegende Schicksale, in denen Menschen an ihren Träumen, an dem um sie umgebenen, brutalen System und dem eigenen sowie familiären Schweigen scheitern. Obwohl nicht jede Wendung, nicht jedes kleine Detail dieser sieben Leben gleichwertig überzeugt, bleibt der Roman immer atmosphärisch stark, temporeich und bewegend; kurzum: er bietet Spannung ohne Unterbrechung. Und wenn alle Stricke reißen, lehrt der Roman, hilft immer noch verfluchte, aber heiße und köstliche Schokolade.

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