Le Bonheur National Brut (von François Roux)

(dt. „Die Summe unseres Glücks“)

1981, beinahe zeitgleich mit dem Wahlsieg des linken Präsidenten Mitterands, legen Paul, Rodolphe, Tanguy und Benoît ihr Abitur ab. Paul blickt in eine unsichere Zukunft. Sein strenger Vater ist verärgert über sein schlechtes Abiturergebnis, zwingt den verdeckt schwul-lebenden Paul an eine Privatschule in Paris, um ein enorm schwieriges Medizinexamen zu bestehen. Rodolphe ist ein aufstrebendes Mitglied der sozialistischen Partei. Er möchte Frankreich sozialer und gerechter machen, doch durch seinen dogmatisch kommunistischen Vater steht er jedweder Zusammenarbeit mit kommunistischen Kräften ablehnend gegenüber. Tanguy kommt aus einer recht-liberalen Familie, musste rasch seinen eigenen, viel zu früh gestorbenen Vater im Betrieb ersetzen. Er möchte Frankreich liberaler und wirtschaftsfreundlicher machen und strebt eine Karriere in der Wirtschaft an. Benoît ist der einzige aus der Clique, der sein Abitur nicht bestanden hat. Er weiß auch nicht wirklich, in welche Richtung er sich entwickeln möchte und bleibt zunächst dort leben, wo er aufgewachsen ist: Auf der Farm seines Großvaters. Ihr Ziel mehr oder (in der Regel) weniger vor Augen, treffen die vier Freunde in den Monaten nach Mitterands Wahlsieg die ersten eigenständigen, von ihren Eltern unabhängigen Entscheidungen. Dreißig Jahre später steht Frankreich kurz davor zum zweiten Mal in der fünften Republik einen linken Präsidenten (François Hollande) zu wählen. Was ist aus den Träumen der vier geworden?

Roux beschreibt mit seiner Jungs-Truppe vier Typen aus der Bretagne. Vom Bauern- bis zum Kleinbürgerhaushalt ist jeder vertreten. Keiner der vier kommt aus einem gemachten Nest, selbst Tanguy musste von Jugendtagen an daran arbeiten, dass die Firma seines verstorbenen Vater auf dem Markt überleben kann. Interessant ist vor allem der unterschiedliche Ehrgeiz der Jungen, der sich automatisch in unterschiedlichen Träumen und Hoffnungen ausdrückt. Während Rodolphe und Tanguy das Gefühl haben, die Welt stehe ihnen offen, wissen Benoît und der Ich-Erzähler Paul nicht, wohin sie streben wollen. Und so erscheint es in der ersten Hälfte des Romans so als würde die Welt Rodolphe, dem zielstrebigen Politiker, und Tanguy, dem stringenten Geschäftsmann gehören. Paul wiederum durchlebt eine Krise nach der anderen: Seine Sexualität wird in seiner Familie nicht anerkannt, seine Berufswünsche sowieso nicht. Auf dem Weg zu seinem (vermeintlichen) Glück muss er sich daher mit seiner Familie überwerfen und schafft Trauma, die ihm ein Leben lang im Weg stehen werden. Benoît wiederum findet seinen Frieden in der Photographie hat aber keine Vorstellung davon, wie er daraus seinen Lebensunterhalt bestreiten soll. Während Paul und Benoît also mit Versuchen beschäftigt sind, arbeiten sich Tanguy und Rodolphe längst auf den Elite-Schulen der Republik nach oben. Dieser Kontrast unterschiedlicher familiärer Anreize (von der Reibung mit dem kommunistischen Vater bis hin zu dem diktatorischen Medizinerpatriarchen), unterschiedlicher Träume und damit auch unterschiedlichem Selbstwertgefühl ist sehr gut von Roux herausgearbeitet.

Die ersten Schritte der vier Jungen benötigen letztlich die Hälfte des Romans. Am Ende dieser in epischer aber spannender Breite erzählten knappen zwei Jahre hat man das Gefühl die Denkweise aller vier zu verstehen. Das ist doppelt überraschend. Denn es geschieht eigentlich relativ wenig: Alle machen ihre ersten Erfahrungen mit der Liebe und erzielen ihre ersten (Miss)Erfolge im Berufsleben. Dennoch gelingt es Roux, den Leser für den Werdegang der vier Abiturienten zu begeistern. Obwohl der Leser relativ wenig über die direkten Gedanken der Jungen lernt, erscheinen sie überraschend greifbar. Auf den ersten Blick sind alle vier, die zwei Künstler, der Politiker und der Geschäftsmann, von Anfang an Stereotype. Nicht einmal der Ich-Erzähler Paul, der in einem Strudel aus widersprüchlichen Erwartungen seiner Familie, seiner Freunde und seiner Liebhaber zu versinken droht, erhält wirklich lange Reflexionsperioden. Durch die dichte Beschreibung des Umfeldes aller vier, die klar herausgearbeiteten Konflikte und zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt man die Jungsgruppe jedoch in so vielen verschiedenen Situationen, dass sich über den in der französischen Taschenbuchversion mit ca. 360 Seiten recht umfangreichen ersten Teil ein genaues und sympathisches Bild aller vier Charaktere bildet.

Der Zeitsprung um 30 Jahre zeigt dann wenig überraschend, dass Träume und Erwartungen sich ganz anders erwarten als erhofft. Roux greift in diesem zweiten Teil stärker die titelgebende Frage nach einem glücklichen Leben und der Produktion dieses Glücks auf. Zunächst zeigt er, dass Beruf, Ehrgeiz und Erfolg nicht unweigerlich zu Glück führen. Sowohl der teilweise gescheiterte Paul als auch der enorm erfolgreiche Tanguy leben in unglücklichen Beziehungen. Der Leser erlebt vier Personen die allesamt gefangen sind zwischen ihren Sehnsüchten und Erwartungen an ein gutes Leben einerseits und den Strukturen um sie herum, die sie an genau diesen Sehnsüchten hindern. Am Ende findet niemand das perfekte Glück. Aber alle machen, nicht immer erfolgreich, einen wichtigen Schritt in Richtung Frieden – sowohl mit den Ereignissen der Vergangenheit als auch mit ihren jetzigen Lebensbedingungen. Obwohl also wieder wenig einschneidendes geschieht, ist es doch bewegend, die vier Männer bei ihrem Verzweifeln am eigenen Leben zu beobachten. Der von allen vier Männern aufgrund ihres Altern empfundene Zeitdrucks erhöht das Erzähltempo und macht den zweiten Teil noch dynamischer und spannender als den ersten. Unweigerlich regt jeder der vier Lebensentwürfe an darüber nachzudenken, wie Glück mit dem jeweiligen Lebensziel überhaupt zu erreichen ist.

Ganz gemächlich begeistert „Le bonheur national brut“ für die vielen kleinen Entscheidungen des Lebens die im Ganzen dafür sorgen, ob man sich glücklich fühlt oder nicht. Verbunden mit zeitgeschichtlichen Ereignissen in Frankreich, der Mentalität der Bretagne sowie dem politisch-kulturellen Leben in Paris der 80er und späten 2000er bzw. frühen 2010er ist dies ein aufregender und vor allem bewegender Roman. Die epische Breite, die vielen kleinen und wenigen (dafür aber dramatischen) großen Ereignisse sind gleichzeitig fesselnd und nachdenklich und hinterlassen dadurch einen bleibenden Eindruck der vier Charaktertypen.

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