Europadämmerung (von Ivan Krastev)

„Europadämmerung“ beginnt mit einem bedrohlichen historischen Vergleich. Das Habsburgereich stand vor dem ersten Weltkrieg vor der unmöglichen Aufgabe, einem Vielvölkerstaat eine Identität und eine Zukunft zu bieten. Die Wirren des Krieges sorgten dafür, dass die einstige Supermacht von der Landkarte verschwand. Europa, so Krastev, steht vor einer ähnlichen Bedrohung. Das liegt auf der einen Seite an der Unfähigkeit, Wohlstand für alle zu generieren. Das einstige Versprechen der EU zu Beginn des Jahrtausends, der dynamischste, am besten ausgebildete und wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Welt zu sein, wirkt heute angesichts wachsender sozialer Ungleichheit wie blanker Hohn. Krastev bilanziert trotzdem, dass es für die Zukunft der EU-Mitgliedsstaaten unerlässlich ist, dass die Union überlebt. Allein werde man in der Welt der Zukunft kaum bestehen können. Doch das reine Überstehen wird angesichts der Flüchtlingskrise schwierig. Diese Krise – so Krastev – habe den Kontinent nämlich nicht nur in links und rechts, Nord und Süd und pro- und kontra-Europa gespalten, sondern außerdem in diejenigen, die den Zerfall einer Ordnung am eigenen Leib erlebt haben und diejenigen, die ihn nur aus dem Geschichtsbuch kennen.

Dieser Unterschied macht das gegenseitige Verständnis ungemein schwierig. Während die eine, vorwiegend westeuropäische Seite die Verteilung von Flüchtlingen als eine Frage der Solidarität sieht, betrachtet die andere, vorwiegend osteuropäische Seite Flüchtlinge als eine Bedrohung für die eigene Mehrheitsgesellschaft. Letzteres wird dabei durch das Gefühl, trotz größter Anstrengungen in den vergangenen Jahrzehnten nicht respektiert zu werden, befeuert. Dabei spielen die Nachwüchse der Turboliberalisierung, die zu einem großen Gefühl der Unsicherheit geführt haben, eine große Rolle. Zuletzt weist Krastev darauf hin, dass die osteuropäischen Mitgliedsstaaten offene Grenzen nicht nur durch die Ankunft von Flüchtlingen als Bedrohung empfinden: Fast alle Familien haben zumindest ein ausgewandertes Mitglied. Ganze Landstriche sind geradezu entvölkert. In dieser Situation mag Einwanderung ökonomisch sinnvoll sein, kulturell wirkt sie bedrohlich. Die einstige Forderung nach mehr Demokratie in Europa schwingt somit zu der Forderung nach mehr (ökonomischen und sozialem) Schutz um. Die Sprengkraft dieser Entwicklung für die EU liegt daran, dass mit der verstärkten Einwanderung in westliche Mitgliedsländer, Osteuropäer dort selbst skeptischer beäugt werden – sie erfahren ihre Vorurteile über Ausländer verstärkt im Westen selbst.

Nachdem Krastev in einem ersten Teil diese bedrohlichen Missverständnisse und Mentalitätsverschiebungen beschreibt, geht er im zweiten Teil auf die Paradoxa ein, die hinter diesen Entwicklungen liegen. Für Osteuropa versucht Krastev zu ergründen, warum pro-europäische Wählerschaften massenhaft europakritische Eliten an die Macht wählen. Krastev beschreibt auf der einen Seite den Effekt, dass die Einbindung in die EU die Wähler davon entbindet, ökonomisch „rationale“ Politiker zu wählen – irrationale Politiker werden von der EU eventuell eingehegt. Andererseits bieten populistische den (gefühlt) bedrohten Minderheit das Gefühle eines „eindeutigen“ Sieges nicht nur über die (vermeintlich) entrückten Eliten, sondern auch über das ständige, rationale und technokratische Abwiegen. Das westeuropäische Paradox ist, dass trotz verbreiteter Begeisterung für das Einigungsprojekt nie eine wirkliche pro- und vor allem pan-europäische Bewegung entstanden ist. Den Grund hierfür sieht Krastev darin, dass pro-europäische soziale Bewegungen und Proteste nie fest, institutionelle Formen wie z.B. Parteien angenommen haben. Die jüngst von Jugendlichen getragenen linken Protestparteien wiederum sehen sich eher als Widerstand gegen das Brüsseler Spardiktat als Antreiber der europäischen Integration. Zuletzt setzt sich Krastev mit dem Brüsseler Paradox auseinander: Wie kann es sein, dass eine kompetente, eifrige und mit vielen Politikvorschlägen durchaus erfolgreiche Beamtenelite in ihrer Meritokratie derartig verhasst ist? Krastev erklärt dies mit der (empfundenen) Illoyalität der ausgebildeten Eliten. „Die Leute von überall“, die ihre Fähigkeiten auf dem ganzen Kontinent einsetzen können, sind örtlich gebundenen Bürgern suspekt.

Krastev schließt mit einer Betrachtung, dass Referenden – egal ob sie wie von Renzi mutig zur Erreichung von Handlungsfähigkeit, von Cameron verzweifelt als Verteidgung gegen die eigene Partei oder von Orbán rücksichtslos zur Stärkung der eigenen Position angesetzt werden – keinen Ausweg bieten. Stattdessen weist er am Beispiel des Demokratisierungsprozess in Spanien darauf hin, dass die Geschichte in der Regel von ungeahnten Zufällen bestimmt wird.

Angesichts des drastischen Einstiegs, in dem ein ungeahnter „Zufall“ zum ersten Weltkrieg führt, mag dieses Ende nicht beruhigen. Was sagt uns der Essay dann? Auf der einen Seite ist er eine Ansammlung sehr interessanter (und sehr gut geschriebener) Anekdoten. Sie bringen dem Leser die Traumata, Missverständnisse und Unterschiede in der ökonomischen und sozialen Entwicklung näher. Dabei wird überdeutlich, dass die soziale Entwicklung in letzter Zeit von vielen als von dem Einhalten ökonomischer Versprechen abgekoppelt ist. Europa „liefert“ nicht (mehr) auf der ökonomischen Dimension: Der Wohlstand, der vor allem osteuropäischen Ländern versprochen wurde, hat sich nicht (bei allen) eingestellt. Stattdessen werden sie nun nicht nur aufgefordert, ihr Schicksal am Besten im Westen zu versuchen, sondern gleichzeitig Platz für Flüchtlinge zu machen. Aus dieser Stimmung lässt sich das stärkste Argument des Buches konstruieren: Wer diese Stimmung nicht versteht (und nicht verstehe möchte), wird die EU langfristig sprengen.

Andererseits bleibt die Ursachenforschung etwas oberflächlich. Sind die drei Paradoxa tatsächlich so irritierende? Füllen Populisten in Osteuropa nicht hauptsächlich eine ideologische Lücke, die der über das ganze Parteienspektrum verbreitete Neoliberalismus geschaffen hat? Gibt es nicht auch in Westeuropa starke populistische Tendenzen? Und produziert das politische System der EU nicht eine Bühne, auf der Brüsseler Eliten mit ihren Aufgaben nur verlieren können? Krastev möchte mit seinem Essay ie EU „weder retten noch betrauern“. Nach der Analyse der drei Paradoxa drängt sich die Frage, wie man diesem Dilemma entkommen könnte, jedoch unweigerlich auf. Darauf zu hoffen, des vereinzelte, kompetente Persönlichkeiten der EU dabei helfen, diese Krise zu überstehen, ist zwar ein optimistischer, aber auch ein überaus passiver Ansatz.

Wie einst im (deutlich autokratischeren) Habsburgerreich steht die Frage im Raum, wie man viele Völker, mit unterschiedlichen Identitäten, Erfahrungen und Vorstellungen, in einer hauptsächlich auf wirtschaftliche Fragen konzentrierte Union vereinen kann. Krastevs Büchlein zeigt vor allem: In Europa gehen öffentliche Meinungen von Land zu Land so weit auseinander, dass ein gemeinsamer, verständnisvoller Dialog schwer zu führen ist. Die EU kann dabei auf der einen Seite nie allen gerecht werden kann. Auf der anderen Seite kann jede Entscheidung immer (und vor allem in wirtschaftlich schwierigen und politisch unsicheren Zeiten) von Populisten ausgenutzt werden. Krastevs viele Motive dieser Situation regen zum intensiven Nachdenken darüber an, wo die Ursachen und vor allem wo mögliche Auswege aus diesem Dilemma liegen könnten.

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