Flut (von Daniel Galera)

Der Protagonist in Flut hat Prosopagnosie. Das bedeutet, er kann sich keine Gesichter sehen. Er selbst ist sich im Spiegel ein Fremder und andere Menschen kann er allenfalls an ihrem Gang erkennen – selbst wenn sie zur Familie gehören. Sein Vater eröffnet ihm zu Beginn des Romans, dass er sich umbringen wird. Er hinterlässt dem Protagonisten seinen Hund und die Geschichte über seinen Großvater, der in dem kleinen Küstenort Garopaba umgebracht wurde, ohne dass jemals eine Anklage erhoben wurde. Der Protagonist, dessen Partnerin vor einiger Zeit mit dem eigenen Bruder durchgebrannt ist, bricht seine Zelte nach dem Selbstmord auf und begibt sich als Schwimmlehrer in die verschworene Gemeinschaft von Garopaba. Seine Fragen über das Schicksal seines Großvaters schaffen nach den Jahrzehnten keine Begeisterung.

„Flut“ wird getragen von Galeras grandiosem Schreibstil. In der dritten verfasst, hat man das Gefühl, das Buch bestehe fast ausschließlich aus Dialogen. Das liegt daran, dass die vielen Details des Romans so dicht und authentisch beschrieben sind, dass man die Dialoge der Hauptfigur kaum von ihren Wahrnehmungen unterscheiden kann. Dies sorgt für eine sehr nahen und gleichzeitig sehr raue Atmosphäre.

Denn wie der Protagonist schwankt man permanent zwischen einem deterministischen Weltbild und der Unsicherheit, die die Unwägbarkeiten des Lebens mit sich bringen. Obwohl ständig unvorhergesehene Dinge passieren, bleibt der Protagonist relativ lethargisch. Er lässt sich von seinem Umfeld treiben, selbst bei der Suche nach seinem Großvater. Dabei scheint er vor allem nach der Trennung mit seiner vorherigen Freundin, sein Selbstwertgefühl noch nicht ganz wieder gefunden haben. Zwar tritt er selbstbewusst auf, dennoch spürt man das permanente Gefühl des Ausgeliefertsein angesichts der Unfähigkeit, sein lebendes Umfeld zu erkennen und angesichts des familiären Verrats. Wie soll man bleibende Beziehungen aufbauen, wenn man sein Gegenüber nicht wieder erkennt?

Das Ventil für die durch die Krankheit und die Vergangenheit ausgelöste Einsamkeit bietet – neben der Beziehung zum Hund des verstorbenen Vaters – der Sport: Schwimmen ist für den Protagonisten nicht nur wichtig, sondern eine Selbstverständlichkeit. Genau das verstand sein Umfeld nie: Angesichts der Anstrengungen, die tägliche Interaktionen erfordern, ist Sport die erholsamste Alternative. Er bereitet aber auch auf die Höhen und Tiefen vor, die das Leben mit sich bringt. Die drängendsten Fragen können durch die Flucht in die Ablenkung jedoch nicht gelöst werden. Anhand der Suche nach dem Schicksal des Großvaters reflektiert der Handlungsträger über die Frage, wo er her kommt. Gleichzeitig ist die eigentliche Frage jedoch, wo er hin gehört. Nachdem seine Familie sich als unfähig erwiesen hat, ihn zu verstehen, bleibt ihm in seinen Augen nur noch die Weite (man gehört entweder zu seiner Familie, oder aber überall hin).

Bei dieser Suche nach dem eigenen Platz in einer nicht immer zu identifizierenden Umwelt steht der eigene Charakter meist im Weg. Angesichts verschwommener Gesichter, hat der Protagonist ein klares Verständnis für richtig und falsch entwickelt. Diese moralischen Kategorien, die auch sein eigenes, oberflächlich antriebsloses Handeln leiten, helfen ihm mit allen Situationen umzugehen und stehen ihm gleichzeitig im Weg. Unwillig von seinen Prinzipien abzuweichen, geraten nicht nur Strandbeziehungen zu abrupten Enden. Der Protagonist ist auch unfähig anzuerkennen, wie geschätzt er in seinem Umfeld ist. Und vor allem macht sein kategorisches Denken die Versöhnung mit der Familie unmöglich.

Neben den eskalierenden Ereignissen in Garopaba und dem unmittelbaren, mitreißenden Gedankenfluss dieses Romans ist diese Charaktereigenschaft der Hauptgrund, dass sich „Flut“ kaum zur Seite legen lässt: Der Leser kann sich unmittelbar mit dem Protagonisten identifizieren, der alle Ereignisse um ihn herum in sein eigenes Koordinatensystem einordnet und sich mit seiner gradlinigen, spröden und etwas sturen Ehrlichkeit oft selbst im Weg steht. Galera verwandelt die Entdeckung dieser Koordinaten durch den Leser zu einem fesselnden, auf einen emotionalen Höhepunkt und dabei existenzielle Fragen durchdenkenden Abenteuer. In dessen Verlauf lernt man den Protagonisten nicht nur kennen, sondern meint ihn in seinen Auseinandersetzungen mit Dorf und Familie samt Stärken und Schwächen ganz zu verstehen. Dieser Eindruck, emotionaler Zerrissenheit wirkt noch lange nach.

One Comment

Add a Comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert