Unterleuten (von Juli Zeh)

In Unterleuten in Brandenburg rumort es. Das kleine Dorf hat die Wendezeit gut überstanden, die einstige LPG ist noch immer ein erfolgreiches Agrarunternehmen und wurde nicht zerschlagen. Und während die Landflucht auch die Jugend von Unterleuten weg gelockt hat, sorgen die hohen Mieten und die Geschäftigkeit in Berlin dafür, dass sich langsam wieder Menschen nach Unterleuten ziehen. Doch die Wende hat auch Konflikte geschaffen, die immer wieder Unruhe in das Dorf bringen. Als Unterleuten von der Landesregierung als Standort für ein neues Windparkprojekt auserkoren wird, eskaliert die Situation. Denn die Gewinner und Verlierer der Wende, die erfolgreichen und erfolglosen Zugezogenen sowie der Bürgermeister haben alle unterschiedliche Hoffnungen und Ängste gegenüber dem Projekt. Die Windräder werden dadurch nicht nur die Landschaft um Unterleuten verändern, sondern eskalieren alle Streitigkeiten in der kleinen Gemeinschaft.

Unter den vielen Charakteren, denen „Unterleuten“ eine Stimme gibt, findet man zwei Typen. Die Dorfbewohner leben hier seit vielen Jahren und kennen jeden. Die Zugezogenen haben sich bewusst für ein Leben auf dem Dorf entschieden und kennen vielleicht jeden beim Namen, sind sich jedoch nicht über die jahrzehntelangen Verbindungen bewusst, die das Dorf zusammen halten. Da „Unterleuten“ kein Entwicklungsroman ist, durchlebt kein Charakter hier eine tiefgreifende Transformation. Stattdessen bleibt jeder seinem Ansatz treu. Das erlaubt dem Leser den Mikrokosmos Unterleuten aus zwölf verschiedenen Perspektiven zu erleben.

Zeh stattet jeden Charakter mit einer bestimmten Lebensphilosophie und einem Bewegrund aus, der für die derzeitige Situation des Charakters elemental ist. Das Beziehungsnetz definiert sich durch drei Elemente. Auf der einen Seite gibt es den oberflächlichen Wendekonflikt, hinter dem sich auf der einen Seite unterschiedliche Einstellungen zum bundesdeutschen System verbergen. Gleichzeitig ist dies jedoch ein bewusst gesuchter Nebenschauplatz, um den gleichzeitig schwelenden Generationenkonflikten zu entgehen. Da die eigenen Kinder in der Regel das Dorf verlassen, wird dieser Generationenkonflikt im Kleid das Stadt-Land Unverständnis zwischen den Zugezogenen und Dorfbewohnern fortgeführt. Unter den Zugezogenen gibt es wiederum Weltflucht sowie Erfolgssucht als Grund für ein Leben in Unterleuten. Hinter all diesen Motiven stecken die Zweifel der Protagonisten über ihre eigene Identität. Was will ich, werde ich dafür anerkannt und was sind eigentlich die Kriterien für meinen Erfolg, sind für die meisten Bewohner des Dorfes ungelöste Fragen.

 

Im Laufe der immerhin 635 Seiten verliert Unterleuten sein Fundament. Denn mit den Windrädern dreht sich nicht mehr alls um den landwirtschaftlichen Betrieb. Um die neue Einkommensquelle entbrennt ein heftiger Kampf um die Platzierung sowie ein noch heftigerer Kampf gegen jede Form der Veränderung. Die vermeintliche Sicherheit und Stabilität einer idealisierten Dorfgemeinschaft geht in einem schier endlosen Sog an jahrzehntelangen Konflikten, falschen Vorstellungen von Erfolg und dem Sturen festhalten an unausgesprochenen, ungeschriebenen und eigentlich überholter Regeln unter. Lokalmatadore brechen, Paare treiben sich ins Unglück und am Ende ist das am Anfang beschriebene Dorf kaum mehr zu erkennen. Trotz des Leids verändert dabei niemand seinen Charakter. Stattdessen wird den meisten Protagonisten nur der eigene Misserfolg klar, was zu unterschiedlichen, teils drastischen Reaktionen führt.

All dies ist in kurzen, jeweils andere Dorfbewohner in den Mittelpunkt stellenden Kapiteln eindringlich beschrieben. Nach einer sehr bildliche Grundierung der Akteure, nimmt „Unterleuten“ schnell Fahrt auf, erzeugt Verständnis für die aggressivsten und verbittertsten Charaktere genau so wie für die schlecht behandelten und überrascht mit vielen glaubwürdigen Wendungen. Leid und Freude – in Unterleuten immer nahe beieinander – aller zwölf Protagonisten sorgen für ein bewegendes Buch, das den Fall eines Dorfes mit eindrucksvollem Leben füllt.

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