Die Hauptstadt (von Robert Menasse)

Die Europäische Union ist in einer Vertrauenskrise. Die Kommissionsabteilung für Kommunikation setzt daher ein Imageprojekt in die Welt. Fenia Xenopoulou wurde jüngst in die Bildungs- und Kulturabteilung versetzt. Dies ist das Ende einer ambitionierten Karriere, denn die EU hat in diesen Politikfeldern keine Kompetenzen. Daher möchte sie sich möglichst rasch einer anderen Abteilung empfehlen und nimmt das neue Imageprojekt unter ihre Fittiche. Ihr Mitarbeiter Martin möchte eigentlich nur seine Ruhe. Doch er wird nicht nur mit Fenias neuem Projekt beauftragt, sondern wird zudem von seinem Bruder und Schweinelobbyisten bedrängt, endlich für die Sache der Schweine in Brüssel einzutreten. Ruhe verschafft ihm nur ein Arbeitsbesuch in Auschwitz. Hier kommt ihm eine Idee: Entstand die europäische Gemeinschaft einst aus den Trümmern des zweiten Weltkrieges, so ist Auschwitz als Ort des grausamsten menschlichen Verbrechens der beste Ort, um die Relevanz der Kommissionsarbeit zu verdeutlichen.

„Die Hauptstadt“ ist zunächst eine Bürokratiesatire. Zunächst belächelt, entfacht Martins Idee in Windeseile ein Eigenleben. Dabei ist kaum klar, wie die Selbstbeweihräucherung der Kommission in Auschwitz überhaupt funktionieren soll. Das ist auch den höheren Beamten im Generalsekretariat der Kommission klar. „Die Hauptstadt“ ist daher eine wunderbar unterhaltsame Erzählung darüber wie eine verrückte Idee zunächst in der Kommission Fuß fasst, nur um anschließend in Gremienkämpfen zwischen den verschiedenen Abteilungen und Institutionen der Union zerrieben zu werden. Menasse gelingt es dabei, viele Charaktere in äußerst kurzen Szenen sehr pointiert in Szene zu setzen. Die Satire wirkt dagegen trotz des grauen Bürokratiechaos bunt und von Emotionen überbordend.

Das liegt daran, dass jeder Charakter einen bewegten Hintergrund hat. In der Kommission teilen auf mehr oder wenige gleiche Art das Ziel, die Arbeit der EU voran zu treiben. Doch feine nationale Unterschiede und Verhaltensmuster sorgen dafür, dass der gemeinsame Nenner nur äußerst schwer zu finden ist. Denn jeder Charakter vertritt eine etwas unterschiedliche Art von Europa, von persönlichem Eigeninteresse und natürlich von dem, was am Besten für das eigene Herkunftsland ist. In Verbindung bildet das den Hintergrund für tragische ungarische Landgeschichten, unklare Liebesverhältnisse, unbändigen Arbeitseifer und ein ungeklärtes, von Schweinen belastet Bruder-Verhältnis – in einer Kommissionsabteilung ohne nennenswerte Kompetenzen. Die Charaktere treiben die Handlung, die auf verschlungenen Wegen erkundet, warum die EU an vielen ambitionierten Projekten scheitert.

Denn während der Enthusiasmus (neben dem Interesse an der eigenen Karriere) in der Kommission vorhanden ist, mischen sich immer wieder nationale Interessen in die Kalkulationen. Diese Dualität der Arbeit am europäischen Projekt und an der Vertretung der eigenen Kultur beziehungsweise der eigenen Herkunft arbeitet Menasse mal mehr mal weniger subtil heraus. Trotz des technischen Themas wird „Die Hauptstadt“ niemals trocken, sondern bleibt immer persönlich, eindringlich und direkt.

Tatsächlich dreht sich auch nicht der gesamte Roman um die europäische Kommission. Darüber hinaus haben drei Männer am Ende ihres Lebens einen Auftritt. Ein österreichischer Professor soll in einem Think Tank über die Zukunft der EU diskutieren und sorgt bei einer Reihe Karriereintellektueller für einen Generationenschock. Ein alter Polizist ist mit einem unerklärlichen Mord, einer die Ermittlung behindernden Staatsanwaltschaft und einer unbekannten Krankheit konfrontiert. Und zuletzt ist einer der letzten Holocaustüberlebenden, die Martin gerne auf seine Imageveranstaltung einladen möchte, gerade dabei in ein Altersheim umzusiedeln. Diese drei Handlungsstränge fügen sich gut in den locker-tragischen Ton der Satire ein. Hier erlebt der Leser sowohl alte Hoffnungen für die europäische Einigung als auch Alltagsprobleme, von denen sich die idealistische Karrierespirale der Kommission längst entfernt hat.

„Die Hauptstadt“ präsentiert damit wie die EU mehrere Dualismen. Europäische Idealisten und nationale Vertreter, alte Träumer und junge Karrieristen, Alltagshandlungen gegenüber dem unendlich wichtigen Kampf für den europäischen Schweinehandel – und als wäre dies nicht genug, arbeitet irgendwo in all dem Trubel noch der Geheimdienst des Vatikan daran, muslimische Attentäter auszuschalten. Und da die Maschine der Kommission so gelungen vor sich hin summer, ihren Mitarbeitern immer Betätigung bietet und im Brüsseler Mikrokosmos die verrücktesten Beziehungen und Konflikte sich entfalten können, versteht der Leser, warum aus Sicht des EU-Apparates energischere Schritte wie die Schaffung einer tatsächlichen europäischen Hauptstadt gar nicht notwendig wirken. Und in all der Vielstimmigkeit wirkt die Idee eines einstigen Mönchanwärters, der mal eben im Auftrag des Vatikan in Brüssel ein Zielobjekt ermordet, gar nicht so absurd.

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