Prodigal (von Gord Sellar)

In der nahen Zukunft entscheidet sich das kinderlose Paar Tim und Jenny nicht nur, einen Hund zu kaufen, sondern auch dazu, diesen mithilfe eines neuartigen chemischen Verfahrens sprechen zu lassen. Über viele Jahre funktioniert das Zusammenleben mit dem Hund Benji sehr gut. Als später doch menschliche Nachwuchs ansteht, verstehen sich der junge Marty und Benji ausgezeichnet. Als jedoch immer mehr Hunde, immer intelligenter werden, beginnen sie langsam Fragen zu stellen. Warum werden Millionen Hunde jedes Jahr eingeschläfert? Stimmt es, dass man in Korea Hunde isst? Und werden Hunde überhaupt als gleichwertig angesehen? Die Spannungen in der Familie steigen und Benji läuft eines Tages weg. Die Familie erfährt, dass er sich eine radikalen und gewalttätigen Hundebefreiungsbewegung angeschlossen hat. Eines Tages im Park steht Benji Tim wieder gegenüber. Doch die Geschichte des „verlorenen Sohnes“ (prodigal son) wiederholt sich nicht: Benji muss alleine, ohne Familie weiterziehen.

„Prodigal“ ist eine gradlinige und gerade deswegen sehr bewegende Geschichte. Denn erst einmal erscheint alles wie der Traum jedes Hundebesitzers. Man kann sich mit dem besten Freund unterhalten, Gedanken austauschen und sich gegenseitig wirklich kennen lernen. Die Unterordnung des Tieres unter dem Menschen bleibt jedoch bestehen. Das wird umso schwieriger je höher der Intelligenzgrad des Hundes ausfällt. Denn mit Intelligenz und Selbsterkenntnis entsteht auch der Wunsch nach einem freieren Leben. Diese langsame, gemächliche Entwicklung gelingt Sellar in diesem kurzen Stück sehr gut.

Besonders tragisch erscheinen die Freunde des Paares. Sie verstehen nicht, wie man sich in die Beziehung mit einem Hund so reinsteigern kann. Aus ihren Augen erkennt man den Blick, den alle Menschen gegenüber Haustieren haben. Im Kontrast zu Tim und Jenny erscheint diese Einstellung grausam und verächtlich. Aber für die gelegentlichen Besucher im Haushalt der Familie ist Benji halt weiterhin „nur“ ein Tier, dass sich nicht darüber aufregen sollte, dass man in Korea Hunde isst.

Für die Familie erscheint die Situation anders. Tim und Jenny lieben Benji – so scheint es. Denn letztlich stehen sie gerade nach der Geburt ihres Kindes zwischen den Stühlen. Benji beginnt Vergleiche zur Erziehung Martys und seiner eigenen zu ziehen. Auf Dauer stellt sich eben heraus, dass Tim und Jenny Benji nicht wie ein Kind behandeln und in ihm in erster Linie weiterhin einen Hund sehen. Obwohl sie das natürlich abstreiten würden, Benji vor ihren Freunden in Schutz nehmen, bleiben sie letztlich doch Tierhalter und machen sich selbst und vor allem Benji in erster Linie etwas vor. Dies kulminiert in der starken, emotionalen Abschlussszene: Tim und Jenny sind nicht die Familie, in die Benji auch nach schlimmen Taten jederzeit zurückkehren kann und auf Vergebung hoffen kann; die Mensch-Tier Beziehung reicht nicht an die Mensch-Kind Beziehung heran.

Die Erzählung ist aus der Sicht Tims geschrieben. Am eindringlichsten erscheint jedoch Benji selbst. Er muss die neue, mit Sprache erfahrbare Welt um sich herum erst einmal verstehen. An ihm erlebt der Leser viele Höhen und Tiefen, interessante Ansichten und letztlich eine aus vielen kleinen Demütigungen motivierte Extremisierung. Auf wenigen Seiten erhält man daher viele Gedanken über Unterdrückung und Widerstand. Vor allem aber ist Benjis Schicksal berührend, traurig und gleichzeitig angesichts der Morde, die er begeht, äußerst verwerflich. Dennoch arbeitet Sellar den Hund mit Hoffnung hinter diesen Ereignissen heraus. Teilweise ist das zu plakativ verfasst. Dennoch macht gerade dieser Fokus die Geschichte äußerst herzergreifend.

Die Kurzgeschichte „Prodigal“ von Gord Sellar ist 2016 im „Analog“ – Magazin erschienen. Sie ist außerdem ein Beitrag in der Anthologie „The Year’s Best Science Fiction (34. Annual Collection)“, herausgegeben von Gardener Dozois.

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