Null-O (von Philip K. Dick)

Lemuel ist ein ungewöhnliches und vor allem gewalttätiges Kind. Seine Eltern sehen keine andere Möglichkeit, als ihn zu einem Psychologen zu bringen. Der Experte erkennt in Lemuel eine seltene Mutation. Lemuel ist nicht in der Lage, Emotionen zu empfinden, er befindet sich in einem rationalen Zustand totaler Paranoia. Gemeinsam suchen der Psychologe und Lemuel nach weiteren „Null-O“-Menschen. Sie entdecken, dass ähnliche Mutanten längst alle Schlüsselstellen infiltriert haben. Wie Lemuel haben sie erkannt, dass die menschliche Fixierung auf Dinge falsch ist: Das Universum ist eine Einheit, die über den „Dingen“ steht. Daher planen die Null-Oer die Erde zu vernichten und anschließend ihren Plan zu verwirklichen, das gesamte Universum in eine Masse zu verdichten.

„Null-O“ ist ungewöhnlich uninteressiert an ihrem interessantesten, die Handlung tragenden Charakter. Lemuel wird zu Beginn als eine Art Mysterium eingeführt. Nach seiner Diagnose erfährt der Leser jedoch nur noch aus seiner Perspektive, was die Null-Oer auf der Erde planen. Das ist schade, denn aus seiner Sicht hätte man die Möglichkeit gehabt, eine komplett emotionslose Perspektive, die gleichzeitig aber Paranoia unterstützt, zu erleben. Stattdessen verfällt Lemuel in eine Art „Group Think“-Stimmung: Er vertraut seinen „Artgenossen“ völlig und hält es am Ende gar für eine gute Idee, dass diese ihn auf der nuklear-verseuchten Welt zurücklassen; schließlich ist es wichtiger, dass die „Mission“ fortgesetzt wird. Angesichts dieses brutalen Endes wäre es gut gewesen, Lemuel mehr Platz in der Geschichte einzuräumen.

Denn die Kritik am Rationalismus ist eigentlich stark. Die Mächtigen der Welt, in den USA und der UdSSR, werden hier längst von Null-O kontrolliert. Die globale Aufrüstung ist ein Teil ihres Plans, jedwede einzelne Struktur zu vernichten und einer unidentifizierbaren Masse hinzuzufügen. Dieser absurde Plan, von rationalistischem Pathos getragen, ist eine bildstarke Kritik an der in den 1950ern aufkommenden technokratischen Bewegung. Angesichts ihrer Indikatoren, ignorieren die Null-Oer gänzlich andere Aspekte ihres Tuns (wie z.B. der Wunsch anderer Menschen auf ihr Leben). Mit dieser abstrusen Metapher macht Dick verständlich, dass rein rationale Abwägung durchaus kriegerische Handlungen sprechen kann. Erst in Verbindung mit emotionalen Aspekten, wie Mitgefühl und Verantwortung, können richtige Entscheidungen getroffen werden.

Wie fast alle Kurzgeschichten Dicks ist auch diese Erzählung nach wie vor aktuell. Heute sind jedoch nicht die Technokraten auf dem Vormarsch, sondern diejenigen, die eine hauptsächlich emotionale Politik wünschen. Dadurch wird ein anderer Aspekt der Handlung interessanter. Durch ihre perfekte Rationalität fürchten die Null-Oer, dass die emotionalen Menschen über sie herfallen werden, sobald sie von der Mutation erfahren. Absolute Rationalität führt dadurch rasch zu absoluten Emotionen. In gewisser Weise versinnbildlichen die von sich selbst überzeugten Apokalyptiker in dieser Geschichte wie rasch absolute, faschistische Ideologien entstehen können: In dem unbändigen Gefühl, zweifelsfrei auf der richtigen Seite zu stehen, gehen die Null-Oer gegen alle anderen Gedanken vor und zerstören sie. Diese apokalyptische Abwägung zwischen Rationalität und Fanatismus stimmt daher auch ohne erzählerische Sympathieträger nachdenklich.

„Null-O“ (orig. „Null-O / Looney Lemuel“), geschrieben 1953, veröffentlicht 1958 im „If“-Magazin ist auf Deutsch unter anderem im Band „Das Vater-Ding“ der Dick-Sammlung „Sämtliche 118 SF-Geschichten in fünf Bänden“ des Haffmans Verlag bei Zweitausendeins erschienen.

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