Meine geniale Freundin (von Elena Ferrante)

Elena und Lila sind seit Kindheitstagen Freundinnen. In hohem Alter verschwindet Lila und verwischt alle Spuren hinter sich. Elena ist davon, anders als Lilas Sohn alles andere als überrascht. Um dem Leser diesen Schritte nahe zu legen, erinnert sich Elena and die gemeinsame Kindheit in den 50er und frühen 60er Jahren in Neapel. Das ärmliche Arbeiterviertel, in dem die beiden Kinder aufwuchsen, prägte beide auf unterschiedliche Art: Während Elena die Möglichkeit erhielt trotz etwas schlechterer Noten, die weiterführende Schule zu besuchen, wurde Lila, obwohl sie Klassenbeste war, früh in die Schusterei ihres Vaters eingebunden.

Das tragende Element des Romans ist das Viertel, in dem die beiden Mädchen aufwachsen. „Meine geniale Freundin“ zeichnet eindringlich das Leben der dort wohnenden Familien nach. Das Miteinander, die Gerüchte und vor allem die Konflikte und Fehden, die zwischen den Familien, zwischen Generationen und den Geschlechtern entstehen vermengen sich schnell zu einer farbenfrohen Kulisse. Alle eint die Sehnsucht nach etwas Besserem und doch verlässt niemand das Viertel (und wenn dann nur für sehr kurze Zeit). Denn letztlich ist das Viertel, weniger die Stadt Neapel, die Heimat aller Bewohner. Dieses Ringen aller Protagonisten um Erfolg in begrenztem Raum, viel Gewalt und der nicht wirklich direkt auftretenden aber immer präsenten Mafia, ist äußerst fesseln.

Der Kern der Handlung ist die Freundschaft zwischen Elena und Lila (eigentlich Rafaella), die aus Elenas Perspektive geschildert wird. In der Schule ist Elena hinter Lila immer die zweitbeste in allen schulischen und außerschulischen Fragen. Und dennoch weigern sich Lilas Eltern das notwendige Geld aufzubringen, um ihrer Tochter eine weitere Schulbildung zu ermöglichen. Elenas Blick ist dadurch immer von Ehrfurcht auf die Freundin geprägt, der der Lernerfolg immer zu fiel. Elena selbst muss sich jeden Wissensschritt erkämpfen und erhält dabei von keiner Seite Anerkennung. Mit jedem weiteren Schuljahr entfernt sie sich gedanklich mehr von ihren Freunden und Bekannten im Viertel, während Lila nicht nur äußerlich immer attraktiver, sondern unter den gewaltbereiten Männern auch immer umkämpfter wird. Während sich die Konflikte zwischen den Protagonisten immer weiter zuspitzen, wird die Beziehung zwischen den beiden jungen Frauen, die zwischen Liebe, Neid und Unverständnis hin- und herpendelt, für den Leser immer interessanter.

Beide jungen Frauen sehen sich mit einer männlich dominierten Gesellschaft konfrontiert. Auf einem (zur damaligen Zeit extravaganten) Sommerurlaub erfährt Elena zum ersten Mal Lob für ihre schulische Leistungen (was ihr in der Familie verwehrt bleibt). Gleichzeitig macht sie ihre ersten, böse endenden Erfahrungen mit ihren Gefühlen Männern gegenüber. Auch für Lila spitzen sich die Konflikte mit ihrem Vater wie mit ihren Verehrern zu. Aufgrund der elterlichen Entscheidungen bleibt beiden Frauen jeweils nur ein Ausweg, um etwas Selbstständigkeit zu erlangen. Elena setzt ihren Bildungsweg fort und entfernt sich immer weiter von ihrem Umfeld. Lila entzieht sich der väterlichen Vorgaben durch eine Heirat – nur um festzustellen, dass sie nun den Entscheidungen ihres Mannes unterliegt. Das langsame Umschwenken kindlicher Unsicherheit aber auch kindlichen Staunens in einen realistischen Blick auf die brutalen Seiten des pulsierenden Lebens in einem neapolitanischen Viertel der 50er und 60er Jahre ist hier sehr gelungen konstruiert und verbindet sich zu einem fesselnden und beeindruckenden Panorama.

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