Retour à Reims (von Didier Eribon)

(dt. Rückkehr nach Reims, Suhrkamp Verlag)

Didier Eribon wächst in einfachen Verhältnissen, in Reims auf. Als schwuler Junge, im heterosexuellen Arbeitermilieu ist er von Beginn an anders. Tatsächlich arbeitet er sich durch die Bildungsinstitutionen hoch, schafft es nach Paris und legt sich dort eine Bildungsbürgerattitüde an. Jahrzehnte später stirbt sein Vater und er kehrt zum ersten Mal seit langem an seinen Heimatort zurück. Das einst linke Milieu hat längst rechten Parolen Platz gemacht und Eribon beginnt zu reflektieren: Warum hat er alles daran gesetzt, Anzeichen auf seine Herkunft an sich auszumerzen? Woran liegt es, dass seine Homosexualität heutzutage akzeptierter in linken Kreisen ist als seine Herkunft?

Eribon zeichnet am Beispiel seiner eigenen Familie auf, warum die Arbeiterklasse Frankreichs einst stets links (und in der Regel) kommunistisch wählte, obwohl sie zur selben Zeit in katholische Kirchen strömte und vielen gesellschaftspolitisch konservativen Einstellungen anhing. Linke Parteien vermitteln den Arbeitern dennoch den notwendigen Stolz, das Gefühl zu einer Gemeinschaft zu gehören. Eribon, ebenfalls streng dem linken Lager zuzuordnen, kann sich damit jedoch nicht identifizieren. Er ist in radikaleren linken Sekten aktiv, arbeitet sich durch die Bildungsinstitutionen und verachtet die ‚gemeinen‘ Rituale seines Umfelds. Diese Erzählung ist in der ein oder anderen Art bereits häufig vorgebracht worden: Der Grund für den Verfall der Linken liegt darin, dass sie ihrem Kernklientel nicht mehr den notwendigen Respekt vermitteln kann.

Einfühlsam und spannend wird das Buch durch die persönlichen Reflektionen Eribons bei seiner Rückkehr. Seine Familie ist ein komplexes Abbild der einstigen französischen Arbeiterklasse. Das Gefühl der Ausbeutung und Armut wurde ersetzt durch das regelmäßiger, prekärer Beschäftigung und einer nur geringfügig verbesserten sozialen Lage. In der angeblich egalitären Gesellschaft Frankreichs gibt es mittlerweile niemand mehr, der die von einem Job zum anderen und immer wieder arbeitslos werdenden Menschen anspricht. Eribon wiederum erstellt bei seiner Rückkehr fest, wie sehr er daran gearbeitet hat, sich von diesem Milieu zu lösen. Linke Politik wird jedoch genau von Menschen wie ihm gestaltet. Sie alle haben Sympathien für Arbeiter, allerdings haben sie gleichzeitig paradoxerweise ihr Leben lang daran gearbeitet, dem Arbeitermilieu zu entfliehen. Der Aufstiegsfluch der Sozialdemokratie bzw. des Sozialismus steht also auch im Zentrum von Eribons Reflektionen. Die unglaublich intensive persönliche Note Eribons in der er seine widersprüchlichen Gefühle gegenüber seinem Vater und seinen Brüdern ausdrückt – die seine Homosexualität niemals wirklich akzeptiert haben – sind die größte Stärke des Buches. Beeindruckend ist dabei auch, dass Eribon, obgleich er mittlerweile vieles differenzierter sieht als in jüngeren Jahren, doch in vielen Situationen hart bleibt: Auf Versöhnung ist er nicht aus, er möchte ‚lediglich‘ verstehen wo er her kommt und wie sich dieses Milieu verändert hat.

Die zweite Hälfte dreht sich zu einem großen Teil um Eribons junge Jahre in der örtlichen Schwulenszene. Hier baut er langsam die Brücke zu seinem Kernargument auf: Indem die Linke Klassenfragen nicht mehr thematisiert, sondern sich auf andere linke Themen konzentriert, habe sie den Kontakt zur Arbeiterklasse noch stärker verloren. Sie ist geradezu von einer auf Identität und Stolz setzenden Welle rassistischer und chauvinistischer Argumente überschwemmt worden. Dieser Teil ist deutlich schwächer als die erste Hälfte. Das liegt vielleicht daran, dass er theoretischer Anerkennung und Stolz diskutiert. Es ist aber auch nicht ganz klar, mit welchen Argumenten man diesen identitätsbezogenen Diskurs denn hätte verändern können. Noch immer sind es schließlich nicht rechte und rechtsradikale Politikvorschläge, die das Leben der ärmsten in der Gesellschaft verändern. Ein linker Gruppendiskurs, dem es gelingt gleichzeitig freiheitliche Rechte von Minderheiten und ein Wir-Gefühl der ‚ausgebeuteten‘ Mehrheit gegenüber den Profiteuren zu garantieren, ist schlicht extrem schwierig zu führen.

Natürlich ist die Frage, warum die Ausgrenzung von Homosexualität zwar nicht gänzlich aber doch weitestgehend überwunden wurde, während die Ausgrenzung ärmerer Teile der Bevölkerung weiterhin besteht, sehr relevant. Das Plädoyer, auch vermeintlich abgehängten Schichten der Bevölkerung Stolz und Würde im politischen Diskurs zu geben, ist wichtig. Wie soll das aber geschehen, gegen simplifizierten Formeln? Ohne Vorfeldorganisationen, über die Diskurse gestaltet werden? Ohne den Arbeitsplatz als Identitätsstifter? An diesem Punkt wäre der Versuch einer familiären Versöhnung interessant gewesen. Denn diejenigen, über die Eribon spricht, kommen einmal mehr nicht zu Wort. Ein Selbstversuch, die Gedankenwelt der Brüder zu verstehen oder aber die Art, wie Diskurse im Viertel heutzutage ablaufen, wären vermutlich genau so stark wie die erste Hälfte des Buches aber deutlich greifbarer als die Reflexionen der zweiten Hälfte. Denn letztlich ist es ja Resignation, wenn man sich eher darüber beklagt, dass sich die Situation anderer verbessert, anstatt für die Verbesserung der eigenen Lebenswelt zu wählen. Die Frage, wie dies aufgelöst werden könnte, steht nach „Retour à Reims“ weiterhin im Raum.

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