Memory (von Lois McMaster Bujold)

memorycover(dt. Viren des Vergessens)

Nach seiner Wiederbelebung kämpft Miles mit gesundheitlichen Problemen. Sein Kreislauf setzt immer mal wieder für kurze Momente aus. Er weiß, dass er sobald er seinen Vorgesetzten auf Barrayar davon berichtet, als Admiral der Dendarii abgesetzt wird. Da seine Rolle als Admiral Naismith mittlerweile der Hauptbestandteil seines Lebens ist, wäre dies für ihn eine grausame Vorstellung. Also lügt Miles in seinen Berichten, obwohl er bei einer Rettungsmission sogar das zu rettende Objekt während eines Anfalls verletzt. Die Lüge kommt ihn teuer zu stehen: Sein Vorgesetzter Ilyan bei der imperialen Sicherheit bekommt die Lüge heraus, ist maßlos enttäuscht – er hatte Miles ohne dessen Wissen als seinen Nachfolger vorgesehen – und entlässt ihn aus dem Dienst. Miles steht nun ohne Job, ohne Persönlichkeit und damit auch ohne Ziel dar. Während Miles Persönlichkeit damit über Nacht ausgelöscht wurde, wird Ilyan das Opfer eines bösartigen Anschlags. Seit einer Folterung ist Ilyan auf einen Gedächtnischip angewiesen. Der Anschlag zerstört den Chip, Ilyan kann sich an nichts mehr erinnern. Nachdem sich die imperiale Sicherheit kaum um Aufklärung bemüht, entscheidet sich Miles, selbst die Ermittlungen aufzunehmen. Dabei stößt er auf eine Mauer des Schweigens, die er nur mit seinem Einfallsreichtum und seinen Kontakten zum Königshaus brechen kann. Doch während den Ermittlungen geht es nicht nur um Ilyan, sondern für Miles auch darum herauszufinden, wer Miles Vorkosigan eigentlich ist.

„Memory“ folgt einem sehr langsamen und gemächlichen Aufbau. Miles Rückkehr und seine Entlassung mitsamt der darauffolgenden Depression nehmen bereits ein Drittel des Romans ein. Das ist teilweise etwas langatmig und doch niemals langweilige. Denn Miles Verzweiflung ist ausgesprochen gut dargestellt. Miles war bisher immer der Junge, der gegen die widrigsten Umstände seinen Traum nicht nur verfolgt, sondern auch erreicht hat. Nun wird ihm alles genommen und er realisiert, dass Naismith eben genau das war, was er immer befürchtet hat: Eine Scharade. Nun befindet sich Miles wieder auf Barrayar, ohne sein Team, ohne Befehlsgewalt und ohne seine Freundin. Er muss herausfinden, wer er eigentlich ist, wie es sich als Miles lebt – immerhin ist das eine Rolle, die er seit zehn Jahren nicht mehr ausgefüllt hat. In erster Linie ist „Memory“ also ein sehr gut geschriebener Selbstfindungstrip. Denn McMaster Bujold beschreibt direkt, was Miles tut, seine Gedankenwelt erforscht sie aber kaum. Diese ergibt sich aus Miles Handlungen und seinen Dialogen mit anderen. Für den Leser sind Miles Handlungen daher gelegentlich unverständlich, aber sie tragen dazu bei, ein kompliziertes Bild einer komplizierten Situation darzustellen.

Der Kriminalfall ist relativ simpel, hat aber große politische Implikationen. Der Geheimdienst ist auf Barrayar traditionell eine mächtige Einrichtung und Ilyan war der Großmeister der Geheimdienstarbeit. Dabei hat er sich hunderte Feinde gemacht, die alle hinter dem Anschlag stecken könnten. Doch es ist relativ schnell klar, wer der Täter sein könnte. Darum geht es hier aber nicht, denn Miles und seine Freunde stehen lange im Dunkeln (gerade weil ihnen der Täter ausgesprochen nahe steht). Die Situation ist aber gerade dazu gemacht, Miles zu zeigen, wer er wirklich ist. Admiral Naismith war eine Erfindung, aber Miles Errungenschaften und Fähigkeiten in dieser Person waren real. Miles Einfallsreichtum, seine Dreistigkeit und seine Zielstrebigkeit helfen ihm auch bei diesem Fall (zusammen mit einer ordentlichen Portion Glück). Er überzeugt seinen Kaiser und Freund ihn zum imperialen Auditor, einer Art Spezialpolizisten für interne Untersuchungen, zu machen. Im Verlaufe des Romans ist es eine Freude, Miles dabei zuzusehen, wie er in die Rolle reinwächst und langsam aber sicher an Selbstvertrauen gewinnt.

Abgerundet wird dieser sehr überzeugende Roman durch drei weitere Elemente. Auf der einen Seite erlebt man viele der bekannten Charaktere in ungewohnten Rollen. Allen voran der strenge Ilyan macht als etwas verwirrter Pensionär und Ratgeber eine ausgezeichnete Figur. Die Tragik, dass Ilyan Miles seine (alternative) Persönlichkeit nimmt und kurz danach selbst davon bedroht ist, seine Persönlichkeit zu verlieren, ist ausgesprochen gut dargestellt. Genau so überzeugend ist die große Versuchung mit der Miles am Ende konfrontiert ist (und bei der er sich für den richtigen Weg, mit dem er später auch leben kann). Abgeschlossen wird der Roman mit einem nüchtern beschriebenen, nüchtern geführten und gerade deswegen herzzerreißenden Abschied Miles von seiner Freundin und zukünftigen Admiralin der Dendarii. Im Zusammenspiel mit der gelungenen Haupthandlung erlangt „Memory“ die selbe Tiefe und Qualität des starken Vorgängers „Mirror Dance„, in der Miles Klon Mark sich selbst finden musste.

„Memory“ ist ein Bruch in der Barrayar-Saga, in dem Miles mit seiner Söldnerzeit abschließt und sich mit seiner eigentlichen Persönlichkeit auseinandersetzen muss. Das ist spannend und immer berührend und mitreißend.

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