Was ist Populismus? (von Jan-Werner Müller)

was ist populismusWohin man in Europa blickt, Populisten sind auf dem Vormarsch. Ob es ihnen gelingt, den Brexit zu erzwingen, ungarische bzw. polnische Institutionen nicht nur zu erobern sondern auch nach Belieben umzugestalten oder in Südeuropa gegen die Austeritätspolitik zu demonstrieren, nationalistische, linke und rechte Bewegungen wird immer häufig das Etikett „(links/rechts) populistisch“ angehängt. In seinem Essay „Was ist Populismus?“ folgt Jan-Werner Müller der Frage, was eine politische Bewegung eigentlich als populistisch auszeichnet.

Für Müller ist eine, sich gegen die herrschenden Eliten richtende Bewegung nicht automatisch populistisch. Im Gegenteil in diesem Essay betont er immer wieder, wie wichtig legitimer Widerstand gegen Regierungshandeln und Eliten in Demokratien ist. Stattdessen ist „das entscheidende Kriterium […] vielmehr, dass sich im Diskurs der Populisten ein dezidierter Antipluralismus findet und dass sie sich stets auf das Volk als eine eindeutig moralische Größe beziehen“ (66). Es ist einzig die populistische Bewegung, die das Volk (als moralische Größe) vertreten. Aus dieser Position leitet sich die Ansicht ab, dass die Position der jeweiligen populistischen Bewegung automatisch die richtige und legitime ist und das jede andere Position dem Willen des Volkes widerspricht und dieses dementsprechend verletzt.

Müller betont, dass diese eine empirisch unmögliche Position ist: Es gibt nie das eine Volk mit einem einzigen Willen. Eine legitime Bewegung müsste sich immer darauf berufen, dass sie „auch“ das Volk sei; sie müsste also auf Gehör für bisher ignorierte Belange pochen. Populisten vertreten wiederum eine Position, die automatisch jede Opposition ausschließt und für die eigene Bewegung einen Alleinvertretungsanspruch proklamiert.

Nach dieser konzeptionell spannenden Definition geht Müller ausführlich auch auf die Praxis populistischer Bewegungen ein. Hier arbeitet er heraus, dass diese in der Opposition tatsächlich die herrschenden Eliten als Gegner des Volkswillen darstellen. Der gängigen Einstellung, Populisten seien in der Regierung zum Scheitern verurteilt, erteilt er jedoch eine Absage. Stattdessen beschreibt er präzise Mechanismen, mit denen sich populistische Regierungen immer weitere Feinde, seien es ausländische Agenten, die Opposition oder nationale Minderheiten, schaffen. Mithilfe der Konflikte, die sie dadurch erschaffen, können sie erfolgreich davon ablenken, dass sie selbst mittlerweile die eigentlichen Drahtzieher und Eliten sind und ihre moralisch-politische Praxis z.B. hinsichtlich der Korruption sich kaum von denen vorheriger Eliten unterscheidet. Gleichzeitig streben Populisten paradoxerweise eine Umgestaltung der Verfassung statt einer Abschaffung derselben an, da diese Umgestaltung ihnen hinter dem Schleier des Rechtsstaats im Idealfall größere Einflussmöglichkeiten verschafft.

Besonders pikant ist Müllers Beobachtung, dass „das Volk“ unter populistischen Regierungen nicht mehr und in der Regel sogar weniger Einflussmöglichkeiten hat. Da die populistische Bewegung sich selbst als direkte Vertreterin des Volkswillen sieht, findet sie es in der Regel nicht notwendig, selbigen zu befragen. So wurde z.B. die ungarische Verfassung ohne Bürgerbeteiligung radikal umgestaltet und die Parlamentswahl im Jahr 2010 kurzerhand rückwirkend zum Referendum über eine neue Verfassung umgedeutet. Müller konstatiert, dass es „auch eine typische populistische Praxis“ gibt und, dass ein Ineinandergreifen aus Ideologie und Praxis es Populisten erlauben, „ihre Handlungen in einer Sprache zu rechtfertigen, die durchaus demokratisch klingen kann und vor allem in ihren eigenen Augen eine eindeutig moralische Dimension hat“ (90).

Hieran schließt sich an, dass „wer Populisten effektiv herausfordern will, muss diese moralische Dimension des populistischen Weltbildes verstehen und ernst nehmen“ (90). Es reiche daher nicht, Populisten auszugrenzen, auch sei eine Rückkehr in Zeiten fest Wählerloyalitäten nicht wünschenswert und die Forderung nach einem Linkspopulismus müsste per definition ebenfalls anti-pluralistische Züge tragen. Die vagen Lösungsvorschläge enthüllen Müllers Glauben an einen ehrlichen politischen Diskurs: Solange abweichende Meinungen anerkannt und als legitim betrachtet werden, politische Konflikte innerhalb politischer Systeme (und auch auf der EU-Ebene) offen ausgetragen werden können und somit jedes Interesse deutlich artikuliert wird, dann wird das die Demokratie stärken, den Pluralismus erhöhen und die Gesellschaft in demokratischen Institutionen besser repräsentieren. Daher nütze es niemandem, jede Kritik z.B. an der EU gleich als „populistisch“ abzutun. Müllers Essay ist damit auch ein Plädoyer dafür, deutlich vorsichtiger mit dem Etikett „Populismus“ umzugehen und sich stattdessen sowohl inhaltlich mit kritischen Meinungen auseinanderzusetzen als auch die moralisch mit einem unrealistischen Volkswillen argumentierenden Populisten inhaltlich zu stellen.

Der Essay ist konzeptuell zugespitzt und trotzdem immer wieder mit praktischen Beispielen gesättigt.  Er vertritt dadurch eine klare, verständliche Position, die dabei hilft, Populisten von lediglich kritischen, aber noch pluralistischen Bewegungen zu unterscheiden. Die Vorschläge zur Bekämpfung von Populisten bleiben etwas vage, bieten aber – wie auch die sehr gelungenen Kapitel über Theorie und Praxis des Populismus – viele Ansatzpunkte zum Nachdenken. Und letztlich ist mit einer klaren Definition, die Populisten über ihre anti-pluralistischen, das Volk als moralische Kategorie (statt als nüchterne, rechtliche und damit möglicherweise auch pluralistische Gemeinschaft) erhöhenden Ansätze identifiziert, bereits viel gewonnen.

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