Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent – Eine Geschichte des neoliberalen Europa (von Philipp Ther)
|Philipp Thers überzeugendes Buch „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ bietet einen geschichtlichen Abriss über die wirtschaftliche und politische Entwicklung osteuropäischer Staaten mit einem Fokus auf die wirtschaftliche Transformation und deren Konsequenz für die Ordnung und vor allem das Wirtschaften auf dem Rest des Kontinents. Der Untertitel des Werkes verengt den Fokus bereits auf den „Neoliberalismus“ als herrschendes Paradigma der 90er und 00er Jahre. Doch Ther verweigert sich einem dogmatischen Ansatz und analysiert die Transformation nüchtern. Die sozial-ökonomische Analyse schließt er mit einem Kapitel über die verpassten Chancen, allen voran die Verkennung der Werte der osteuropäischen Revolutionen, ab.
Der knappe Inhaltsabriss zeigt bereits die Vielfältigkeit des Buches: Ther versucht sich dem Transformations- und Neoliberalismusphänomen auf vielschichtige Art anzunähern. Ther zeichnet nicht die politischen und ökonomischen Ereignisse von Polen bis Russland seit 1990 nach. Stattdessen beschreibt er eine globale Perspektive in verschiedenen, thematisch sortierten Kapiteln und gibt damit einen Gesamteindruck der Entwicklungen. Er bemüht sich immer auch Rückschlüsse darauf zu ziehen, was bestimmte Reformen für die Lebens- und die Gefühlslage der Bevölkerung bedeuten. Daraus ergibt sich ein besseres Verständnis mancher Entwicklungen in Osteuropa. Am Beeindrucksten ist sein Fokus auf regionale Unterschiede. Damit arbeitet er heraus, dass sich osteuropäische Metropolen wie Warschau und Prag z.B. im Vergleich zu Berlin (in dem neoliberale Reformen durch die Wiedervereinigung nicht umgesetzt werden konnten) deutlich besser entwickelten. Gleichzeitig arbeitet er die massenhafte Armut und Perspektivlosigkeit auf dem Land heraus. Dabei bleibt er nicht stehen und zieht geschickt Verbindungen zu Ereignissen in West- und Südeuropa, dessen Sozial- und Wirtschaftssystem auf einmal nicht nur den Lohndruck aus dem Osten spürten, sondern auch in Konkurrenz zu immer neoliberaleren Reformen treten mussten.
Zurück bleibt ein beeindruckendes Panorama, das durch ein bestechendes Kapitel über verpasste Chancen abgerundet wird. Der Autor hat selbst eine Weile in Polen, Ungarn und der Ukraine geforscht. Dadurch wird die Darstellung der Lebenslagen nicht nur authentischer, dem Autoren gelingt dadurch eine knappe aber sehr interessante Reflexion über die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine.
Seine Arbeit zeigt zudem, warum das Vertrauen und vor allem der Glaube in die Demokratie sich auch nach über 20 Jahren in Osteuropa nicht gefestigt haben: Selbst dort, wo demokratische Prozesse funktionieren, mussten die Bürger in der Regel die Erfahrung machen, dass Liberale, Konservative und Post-Kommunisten dieselben neoliberalen Rezepte anwendeten und die Wahlentscheidung dementsprechend wenig bewirkte. Aus dieser Erkenntnis ergeben sich interessante Gedanken über die derzeitigen autokratischen Entwicklungen in Ungarn und Polen sowie über den Unmut im Westen, z.B. über die neoliberalen Reformen der rot-grünen Bundesregierung.
Ther rundet sein Buch mit einem Rückgriff auf die Krise ab. Sein Werk zeigt, dass trotz neoliberaler Hegemonie, neoliberaler Staatsabbau nie ganz geschehen ist, sondern dass jeder Transformationsprozess einen spezifischen Mix neoliberaler und staatsnaher Strategien angewendet hat und es in der Krise zudem zu einem weitgehenden Rückbau neoliberaler Programme und (dort wo der finanzielle Spielraum vorhanden war) Ausbau sozialstaatlicher Programme gekommen ist. Das Ergebnis der neoliberalen Rhetorik und Regierungsprogrammatik im Osten ist wachsende Ungleichheit und ein fehlendes Vertrauen in die Demokratie. Das Ergebnis westlichen Chauvinismus z.B. gegen osteuropäische „Billiglohnländer“ bzw. „Arbeitsmigranten“ sind vor allem ungenutzte Chancen der gegenseitigen Verständigung und Wertekommunikation, die zu den zum Teil enormen Differenzen zwischen z.B. deutscher und polnische-ungarischer Politik führen. Die „neue“, von den Märkten dominierte und geleitete „Ordnung“, so schließt Ther, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten als „verletzlich“ und „volatil“ herausgestellt. Daher regt Ther zu einer Diskussion über die Konsequenzen der durch die marktdominierende Ordnung wachsenden sozialen Disparitäten zwischen Ländern aber auch Regionen in Europa an.
All dies ist einem sehr dicht und teilweise eindringlich geschriebenen Text verpackt, der dem Leser einen sehr guten Eindruck der Gefühlslage in osteuropäischen Ländern vermittelt, einen Abriss über die neoliberale Politik bzw. Rhetorik der letzten drei Jahrzehnte präsentiert und dabei auch die Konsequenzen für Deutschland und andere westliche Länder aufgreift, wobei Werturteile immer deutlich als solche gekennzeichnet werden. Das sorgt für eine spannende, erhellende und zum Nachdenken anregende Lektüre.