EUROPA – La dernière chance de l’Europe (von Valéry Giscard d’Estaing)

europaValéry Giscard d’Estaing, Präsident Frankreichs von 1974 bis 1981, veröffentlichte 2014, aus Sorge um das Projekt der europäischen Integration das Buch „Europa“. Dieses „Projekt, um Europa zu retten“ (projet pour sauver Europe) stellte er gleichzeitig kostenfrei online, um möglichst viele Menschen von seiner Idee zu überzeugen In der ersten Hälfte skizziert Giscard d’Estaing auf einfache und klare Weise seine Sicht auf die Geschichte der europäischen Integration und führt in einer zweiten Hälfte aus, wie eine Neugründung mit weniger Mitgliedsländern, intergouvernementalistischeren Legitimationswegen und vor allem kohärenten Politikstilen aussehen könnte.

Der großartigste Teil dieses Buches ist sicher die erste Hälfte. Valéry Giscard d’Estaing stellt darin minutiös die Sternstunden der europäischen Integration dar – zumindest aus seiner Sicht. Ganz vorne rangieren hier natürlich die Gründung des Europäischen Rates 1974 sowie des Europäischen Währungssystems 1978. Beides hat Giscard d’Estaing einst mit seinem Freund und Kollegen Helmut Schmidt durchgedrückt. Dieser Abschnitt wird anekdotisch beschrieben (es wird u.a. beschrieben wie Jean Monnet Giscard d’Estaing aufsuchte, um ihm zu der Idee des Europäischen Rates zu gratulieren) bevor Giscard d’Estaing dann auf die Irrwege einer zu schnellen und gleichzeitig unvollständigen Integration zu sprechen kommt. Und das ist in seinen Augen das derzeitige Problem der EU: Aufgrund der Heterogenität ihrer Mitglieder können weder die EU noch die Wirtschafts- und Währungsunion tragfähige Lösungen anbieten. Und aufgrund unterschiedlicher Interessen vor allem hinsichtlich der Finalität der Integration sei es unmöglich, ein Integrationsprojekt voranzutreiben, die EU verliere sich stattdessen in mehreren, sich überschneidenden Projekten. Auch bei der Analyse des Problems dürften die meisten Leser und Wissenschaftler dem Ex-Präsidenten noch folgen.

Das eigentliche Anliegen Giscard d’Estaings ist ein heres: Er möchte eine realistischer Alternative zwischen der existierende Tristesse und den (angeblich) utopischen Lösungsvorschlägen anbieten. Sein Vorschlag ist es, die EU auf der wirtschaftlichen Ebene weiter arbeiten zu lassen, parallel aber „Europa“ zu gründen. Europa würde aus weniger Mitgliedern bestehen (auf der Homepage des Projektes gibt es eine Visualisierung). Giscard d’Estaing stellt sich hier vor allem die integrationswilligen Länder vor. Außerdem würde Europa viele Institutionen haben, in denen die Regierungen und Parlamente der Mitgliedsländer viel stärker involviert wären, während die bisherigen supranationalen Institutionen wie das Parlament und die Kommission kein direktes Pendant erhielten. Gleichzeitig sollen diese Institutionen weitreichendere Kompetenzen haben, um Lösungen schnell und vor allem effektiv zu lösen (z.B. ein Finanzministerium). Das Ergebnis soll ein kohärenteres, politischeres, sozialeres und vor allem wirtschaftlich erfolgreicheres Europa sein.

Giscard d’Estaings Motivation wird regelmäßig wiederholt: Nur gemeinsam habe Europa die Chance, auf dem Weltmarkt gegenüber China und den USA zu bestehen. Wer das nicht einsehen möchte, muss eben gehen. Das ist ein nachvollziehbareres Argument. Giscard d’Estaings praktische Umsetzung ist jedoch viel kontroverser: Alle östlichen Mitgliedsstaaten außer Polen sollen nicht Teil Europas werden, Griechenland bleibt ebenfalls außen vor. Dafür dürften Finnland und Irland mitmachen, während Dänemark und Schweden draußen bleiben. Dies wird nur sehr kurz und knapp begründet. Selbst wenn man die These annimmt, dass dies die integrationswilligen Länder sind, widerspricht die Realität dem doch: Polens neue Regierung wäre z.B. keine große Hilfe beim Europa-Projekt.

Eine zentrale Idee ist es, dass Demokratiedefizit der EU zu beseitigen. Hier ereifert sich Giscard d’Estaing z.B. auch über die jüngste Spitzenkandidaten-Idee, in der das Parlament durchgesetzt hat, dass der siegreiche Spitzenkandidat der EU auch Kommissionspräsident sieht. Da kein europäisches Volk darüber abgestimmt habe (außer bei der EU-Wahl, aber da nicht über diese Idee) und auch die Regierungen nur wiederwillig mitgemacht haben, sieht Giscard d’Estaing dies als einen Putsch von Eurokraten. Dem möchte er eine einheitlichere Politik, mit viel mehr gemeinsamen Politikfeldern (z.B. in der Steuerpolitik) gegenübersetzen, die aber unter der Kontrolle Mitgliedsstaaten stehen. Dadurch sei die Legitimität und anschließend auch die Zustimmung viel höher.

Der Realitätsbezug des Projektes ist zu loben und gerade deswegen ist es offensichtlich, dass auch dieser Vorschlag an den Interessenslagen scheitern wird. Auf der einen Seite dürfte z.B. die deutsche Bundesregierung kein Interesse daran haben, in eine wirkliche Transferunion einzutreten, während die (noch immer als Teil Europas mitmachenden) südeuropäischen Regierungen wenig Interesse an der Fortsetzung der Austeritätspolitik Deutschlands haben dürften. Es ist also nicht klar, ob ein verkleinertes Europa tatsächlich die Grundlage für eine europaweite Sozialpolitik legen könnte.

Zudem gibt es keine europäische Kraft, die für solch ein Projekt werben würde. Weder sind die Bürger der Europa-Staaten tatsächlich daran interessiert, sich von nationalistischen Vorstellungen zu lösen und sich mit integrationswilligen Ländern zusammenzuschließen, noch gäbe es eine politische Kraft, die dafür kämpfen würde. Giscard d’Estaing ruft die Jugend der angesprochenen Länder auf, für seinen Entwurf (und ihre Zukunft) zu kämpfen und übersieht dabei, dass eine Lösung, die Regierungen und nationale Parlamente anstatt einer wahrhaft europäischen Demokratie ausgerechnet in dieser Generation wohl am wenigsten Zuspruch erhalten würde.

„Europa“ bietet daher eine augenzwinkernde und unterhaltsame Biographie der Europäischen Union aus der Sicht der 70er-Jahre an, aber darüber hinaus nur den Entwurf eines reduzierten Bündnisses, das die existierenden Interessensunterschiede wohl nicht beheben könnte.

 

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