Die Grenzen der Gerechtigkeit (von Martha C. Nussbaum)

die grenzen der gerechtigkeitDie Philosophin Martha Nussbaum setzt sich in ihrem Werk „Die Grenzen der Gerechtigkeit“ mit drei ihrer Meinung nach vergessenen oder zumindest ungelösten Feldern der Gerechtigkeitstheorie Rawls auseinander: Den Umgang mit Behinderungen, die Gerechtigkeit über Nationalgrenzen hinaus sowie Gerechtigkeit für Angehörige aller Spezies. Ihr Werk ist dabei keine grundsätzliche Kritik an Rawls. Stattdessen übernimmt sie eine Reihe seiner Ansätze und erweitert diese, unter Verweis auf Überlegungen anderer Philosophen des Kontraktualismus, um den Fähigkeitenansatz. Mithilfe dieses Blickwinkel gelingt es ihr, die drei oben genannten Aspekte zu analysieren.

Der Fähigkeitenansatz (auf Englisch „Capability Approach“ wurde von Amartya Sen zunächst im ökonomischen Bereich entwickelt und von Nussbaum seit dem Ende der 80er Jahre philosophisch unterfüttert. Der Ansatz basiert nicht auf dem Kontraktualismus, sondern versteht sich als „politische Theorie elementarer Ansprüche“ (218). Diese Blickrichtung konzentriert sich darauf, „was die Menschen tatsächlich zu tun und zu sein in der Lage sind“ (103). Politisches Handeln sollte sich demnach nicht danach richten, den größten Gesamtnutzen oder eine absolut gleiche Verteilung des Vermögen zu erreichen, sondern eine möglichst gleiche Verteilung an Fähigkeiten und vor allem die Sicherung eines bestimmten Mindestniveaus an Fähigkeiten (u.a. 112-14) zu erzielen. Wichtig ist dabei, dass mit dem Besitz an Fähigkeiten kein Zwang einhergeht, diese auch zu nutzen (mit einigen Ausnahmen, wie z.B. der Würde, 240).

Aufbauend auf drei Fallstudien und einer Auseinandersetzung mit dem Kontraktualismus entwickelt Nussbaum so ein ambitioniertes Programm zur Garantie der Fähigkeiten von Behinderten. Dieser Teil ist vermutlich unbestritten, regen doch nicht nur die gewählten Beispiele das Mitgefühl (und den Verstand) der Leser an. Immerhin ist mittlerweile weit akzeptiert, dass Behinderte ein selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft garantiert werden muss. Nussbaum verhehlt nicht, wie teuer dies wird und bringt eine Reihe unbestechlicher philosophischer Argumente an, warum diese Maßnahmen dennoch aus Gerechtigkeitsgründen notwendig sind.

Noch ambitionierter und vor allem noch aktueller sind ihre Überlegungen zur Ausweitung der Gerechtigkeit über Nationalgrenzen. Nach einer 130-seitigen Auseinandersetzungen mit der Sicht des Kontraktualismus zu dieser Frage, den Ableitungen des Fähigkeitenansatzes dazu sowie der Diskussion wo die Grenzen zwischen Gerechtigkeitsanforderungen und Toleranz unterschiedlicher Gesellschaftsentwürfe liegt, legt Nussbaum eine zehn Punkte Liste für eine globale Gerechtigkeitsordnung vor (430-441). Obwohl diese unter anderem fordert, die nationale Souveränität sollte „innerhalb der durch die Förderung der menschlichen Fähigkeiten auferlegten Grenzen respektiert werden“ (431), geht diese Liste sehr weit und liest sich (blendet man die philosophischen Vorüberlegungen aus) wie ein linkes Wunschprogramm, das die internationale Verantwortung zur Fähigkeitssicherung aber auch zur Wohlstandsverteilung und zur Kontrolle multinationaler Unternehmen betont und zu deren Sicherung es klug konstruierter Institutionen bedürfe (418-30).

Das dritte Themenfeld mutet dem Leser noch einen weiteren Schritt zu: Wurden Gerechtigkeitsfragen zunächst auf alle Menschen ausgedehnt (was, beobachtet man vor allem die jüngsten Debatten zur Flüchtlingskrise 2015 offensichtlich bereits zu weit geht), nimmt Nussbaum auch noch den nächsten Schritt auf sich und wendet sich der Frage gerechter Tierverhältnisse zu. Dabei sieht sie keinen Grund, warum man den Fähigkeitenansatz nicht so weit wie möglich auf Tiere ausweiten sollte. Dies ist ein überaus sensibles Thema, dienen uns Tiere doch nicht nur als Nahrungsmittel, sondern auch gerne als absolut abhängig gehaltene Lebensbegleiter (wie zum Beispiel Hunde und Katzen). Nussbaum erkennt diese weiterverbreiteten Einstellungen zu Tieren an und plädiert daher auch dafür, Rechtsansprüche für Fähigkeiten schrittweise auszubauen (was aus praktischer Sicht wohl leider auch im Falle internationaler Gerechtigkeit notwendig wäre). Sie kommt zu einer weitgehenden, visionären, angesichts ihrer vorherigen theoretischen Überlegungen allerdings noch moderaten Liste tierischer Fähigkeiten für die Menschen aufgrund ihres hohen Expansionsgrad durchaus eine Mitverantwortung haben (528-39).

Das Buch wird abgeschlossen mit einem knappen Abschnitt zu der praktischen Voraussetzung für die Umsetzung dieser philosophischen Überlegungen: Erst wenn diese Überlegungen nachempfunden werden können, wenn also die Verletzung der Fähigkeiten von Behinderten gefühlt werden können, dem Leid von „Ausländern“ genau so viel Mitgefühl entgegengebracht wird wie den (leider meist ausgeblendeten) Armen im eigenen Land und das Leid von Tieren so berührend ist wie das wehrloser Menschen, können die Konsequenzen des Fähigkeitenansatzes auch Realität werden.

Nussbaums Überlegungen muten menschlichen Gesellschaften (bzw. der menschlichen Gesellschaft) also mit jedem Abschnitt etwas mehr zu. Obgleich als politische Theorie konsequent und größtenteils überzeugend und durchaus mit Hinweisen auf praktische Umsetzungsmöglichkeiten versehen, bleibt eine Analyse der Realisierbarkeit angesichts weltweiter Machtstrukturen aus. Dies wird auch durch den Hinweis auf die enorme Bedeutung von Emotionen nicht ausgeglichen. Gleichwohl zeigt dieser letzte Abschnitt, dass das Hindernis zu mehr (bzw. umfassender) Gerechtigkeit in der Welt weiterhin in erster Linie an der Menschheit, also in uns selbst, liegt. Erst mangelnde Empathiefähigkeit und damit auch mangelndes (rationaleres) Verständnis füreinander erzeugt in Verbindung mit unterschiedlichen sozial-ökonomischen Lagen die prekäre Situation unserer jetzigen Gesellschaft, die (um ein aktuelles Beispiel zu wählen) Flüchtlingsströme durch weltweite Ungleichheiten erschafft und sich mit ihnen aber am Liebsten nicht auseinandersetzen möchte.

Nussbaums Werk ist insofern ein Meilenstein für eine auf die Zukunft ausgerichtete politische Philosophie, deren Kernanliegen es ist, Fähigkeiten zu garantieren und Ungerechtigkeiten abzubauen. Heute wirkt dieses Werk visionär und (teilweise) radikal, möge es in einigen Jahren altbacken und überholt erscheinen.

 

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