Der Golem (von Gustav Meyrink)

der golem„Der Golem“ erzählt von einem Schauertraum. Der unbekannte Erzähler träumt von Ereignissen im Prager Judenviertel. In der Person des Gemmenschneiders Athanasius Pernath begegnet er einem seltsamen Auftraggeber, den seine Freunde als Sagengestalt Golem identifizieren. Pernath wird in der Folge in mehrere Intrigen verwickelt, entdeckt Stück für Stück seine vergessene Vergangenheit und verwickelt sich selbst immer mehr in Wahnvorstellungen, die in der Regel den Golem miteinschließen.

Im vergangenen Jahr feierte Meyrinks Roman seinen hundertsten Geburtstag. Das merkt man vor allem an der ungewöhnlichen Interpunktion. Sie arbeitet viel mit Gedankenstrichen, vor allem in emotional bewegten Momenten. Ironischerweise erinnert dieser Stil stark an die Schreibweisen vieler moderner Diskussionen in sozialen Netzwerken – mit dem Unterschied, dass dort in der Regel mehrere Fragezeichen und Ausrufezeichen anstatt Gedankenstriche verwendet werden.

Der Handlung merkt man ihr Alter vor allem daran an, dass sie ein dichtes, realistisches und unmittelbares Leben des jüdischen Ghettos in Prag zeichnet. Es wäre heute vermutlich schwierig, ein so einprägsames Bild zu zeichnen, ohne den Ort selbst besucht zu haben. Zudem gibt es neben historischen Romanen nur wenig Gründe, eine Handlung in diesem Milieu anzusiedeln.

Der Spannungsaufbau des Romans wiederum ist so dicht, dass man ihn auch in modernen Publikumsromanen finden könnte. Obwohl die Rahmenhandlung im ersten Kapitel deutlich gemacht wird, vergisst man schnell, dass es sich um eine Traumversion Pernaths handelt. Der Leser wird von der Sagenhandlung des mysteriösen Golems fasziniert und fiebert gleichzeitig mit Pernath mit, der gleichzeitig in ein Morkomplott eines Studenten einbezogen wird und erfährt, dass er einst mentale Probleme hat und erst wieder „normal“ funktioniert, nachdem ihn seine Freunde einer Hypnose unterzogen, die ihn seine Erinnerung kostete. Zusätzlich findet Pernath in der Tochter seines Weisen Nachbarn in all dem Wahn dennoch seine große Liebe.

Mit dieser komplizierten Konstellation spricht Meyrink eine Reihe von Urängsten und -hoffnungen an. Die Erkenntnis, dass das eigene Leben eine Lüge ist, und ein (unschuldiger) Gefängnisaufenthalt stellen das Leben Pernaths für einen kurzen Moment auf den Kopf. Dies ist die Basis für Meyrinks überzeugendes Ende: Der Erzähler erwacht, erfährt, dass sein Traum vor 30 Jahren spielte und findet ein völlig verändertes Ghetto vor. Doch auf den letzten Seiten macht er den echten Pernath ausfindig – Realität und Traum verschwimmen.

Der mitten im ersten Weltkrieg erschiene Roman „Der Golem“ ist dadurch eine vielschichtige Schauergeschichte, die den Leser auf einen mitreißenden Wahntraum nimmt, Ängste geschickt bedient und dabei in fast allen Momenten stimmig und gleichzeitig undurchschaubar wirkt.

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