Capital (von John Lanchester)
|Pepys Road ist eine Straße, die sich über die Jahrzehnte gewandelt hat. Einst eine neue Siedlung für Arbeiter hat die Straße im Zuge des Aufstiegs Londons zum Finanzzentrum immer mehr an Wert gewonnen. Damit veränderte sich die Sozialstruktur, von den ursprünglichen Bewohnern haben die meisten ihre Immobilien zu Geld gemacht. Neben den wenig verbliebenen Mittelklasse Bewohnern ist die Straße nun ein begehrtes Ziel der oberen Mittelschicht bzw. unteren Oberschicht. Lanchester beschreibt das Leben ausgewählter Bewohner in dem Jahr vor der Finanzkrise 2008. Der Leser verfolgt das Schicksal des Investmentbänkers Yount und seiner Shopping-süchtigen Frau, das Staunen Freddies und seines Vaters Patrick Kamos, die aus dem Senegal nach London kommen, da Freddy einen hochbezahlten Fußballvertrag ergattert hat. Außerdem dreht sich die Handlung um eine alte Frau mit Gehirntumor, eine pakistanische Migrantenfamilie, die in der Stadt einen kleinen Laden betreiben, die illegale Einwanderin Quentina sowie den polnischen Handwerker Zbigniew. Im Zentrum ihres Leben scheint Geld zu stehen, doch letztlich wird ihr Glück von den Menschen um sie herum bestimmt.
Der Titel des Romans und der Zeitraum vor und um die Finanzkrise erwecken den Eindruck, dass die Erzählung sich hauptsächlich um den Gelderwerb in der City dreht. Nachdem sich dies rasch als Trugschluss erweist, erwartet man zumindest, dass die Finanzkrise eine Auswirkung auf die Charaktere des Romans hat. Doch auch dies erweist sich als Irrtum: Nicht einmal der Investmentbanker ist von der Finanzkrise direkt betroffen, er verliert seinen Job bereits bevor seine Bank in der Finanzkrise untergeht. Stattdessen versucht Lanchester mithilfe der verschiedenen Familien und Charaktere ein Portrait des Lebens in der Großstadt London zu zeichnen. Das verbindende Element zwischen den Familien ist dabei in der Regel das Geld: Petunia Howes erleidet ihren ersten Tumor-Anfall beim Einkauf im Geschäft der pakistanischen Kamals. Der Handwerker Zbigniew hat nur Kontakt mit den Youngs, da er sich erträumt, in London ausreichend Geld zu verdienen, um seinen Eltern einen angenehmen Lebensabend zu finanzieren. Und Quentina arbeitet Illegal als Strafzettelverteilerin.
Ein zweites verbindendes Element sind merkwürdige Postkarten, die alle Bewohner erhalten. Auf ihnen steht, dass jemand das Leben der Bewohner der Straße haben möchte. Mit der Zeit werden die Karten, Briefe und später gar Videos immer bedrohlicher. Allerdings werden nie zum zentralen Element der Handlung, lediglich einmal werden durch sie alle Bewohner der Straße zu einer Versammlung einberufen und treffen sich dadurch. Ansonsten plätschert diese Handlung sanft im Hintergrund.
Die Stärke des Romans ist daher die Beobachtungsgabe und der Humor des Autors. Alle Darstellungen wirken überzeugend und realistisch – trotz einiger skurriler Charaktere. An vielen Stellen ist der Roman geradezu witzig, vor allem in den Handlungen mit dem Handwerker Zbigniew, der eine ganz bestimmte Perspektive auf das Leben in der reichen Stadt London hat. Tragisch ist wiederum das Schicksal der illegalen Arbeiterin Quentina, deren Darstellung sehr bewegend ist. Beide Handlungen wie auch die Darstellung der pakistanischen Einwandererfamilie gehören zum Alltagsleben in der Großstadt London, haben aber wenig mit Geld oder Kapital zu tun. Insgesamt krankt der Roman etwas daran, dass es zu viele verschiedene Nebenhandlungen gibt. Zwar tragen alle zum Spannungsverlauf sowie zu einer gelungenen Mischung aus witzigen und tragischen Szenen bei. Im Gesamtkontext bleibt das Werk aber genau das: szenenhaft. Durch die vielen Erzählstränge müssen die Protagonisten Typen bleiben, deren Verhalten relativ einfach vorhergesagt werden kann. Kaum ein Protagonist des Romans durchlebt eine Art Entwicklung.
Lanchester gelingt dabei aber keine große Skizze der Londoner Gesellschaft. Dafür ist die Thematisierung von Alltagsrassismus, systemischen Benachteiligungen und Arbeitslosigkeit zu knapp geraten. Die einzige verbindende Aussage aus den Handlungen ist, dass das Wohlbefinden der Menschen letztlich nicht vom Geld abhängt – obwohl alle Protagonisten dies annehmen – sondern von den Menschen mit denen sie sich umgeben. Die einzige Ausnahme ist die Einwanderin Quentina Mkfesi, deren ganzes Leben allein von der Behandlung durch einen einzelnen Richter abhängt – der just in ihrem Fall einen schlechten Tag hat. Der einzige Protagonist, der die Botschaft nicht nur erkennt, sondern auch verinnerlicht, ist Zbigniew; alle anderen durchleben zwar die Erfahrung, dass ihr Umfeld wichtiger ist als ihr Geld, verändern ihren Lebensstil aber nur geringfügig.
Durch eine Spezialisierung des Romans, auf eine bestimmte Gesellschaftsschicht oder etwas eine dominierende Haupthandlung, hätte Lanchester eventuell eine fesselndere und aussagekräftigere Handlung aufbauen können. So bleibt es bei einer – durchaus unterhaltsamer, sozialkritischer und gelegentlich spannender – Aneinanderreihung an Großstadtszenen.