Nationale EU-Scheinheiligkeit verhindern

europa_flaggeZehn Jahre lang war José Manuel Barroso Kommissionspräsident der Europäischen Union. Nach zwei bewegten Amtszeiten, in denen unter anderem das Verfassungsprojekt scheiterte, der Vertrag von Lissabon in Kraft trat und die Auswirkungen der internationalen Finanzkrise bewältigt werden mussten, gab er das Amt in diesem Jahr an Jean-Claude Juncker ab. Trotz der vielen Ereignisse in seiner Amtszeit wird Barroso voraussichtlich nicht als reformfreudiger Kommissionspräsident in die Geschichte der Union eingehen. Stattdessen haftet das Label eines staatsoberhaupthörigen Präsidenten an dem Portugiesen. Ob dieses (harsche) Urteil tatsächlich gerechtfertigt ist, werden Historiker beurteilen müssen. Dieser gegenwärtige Eindruck wird das Bild Barrosos nichtsdestotrotz für einige Zeit prägen. Um so überraschender sind daher Barrosos jüngste Aussagen in der Welt.

Der Ex-Präsident hat der konservativen Tageszeitung laut Internetmeldungen zwei Beschwerden offenbart. Beide zielen auf den Europäischen Rat. Dort treffen sich mindestens halbjährlich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten und fällen die wichtigsten Entscheidungen in der Europäischen Union. Der Rat ist dabei ähnlich wie das Parlament Teil der Legislative und in vielen Fällen sowohl der (indirekte) Auftraggeber der Kommission als auch Richter über die Politikentwürfe der Kommission. Barroso beschwert sich, dass vor allem kleine Mitgliedsländer die Entscheidungen im Rat nur lückenhaft vorbereiten. Entscheidungen werden (nicht nur laut Barroso) im Rat häufig einstimmig getroffen. Trotzdem, so bemängelt Barroso, verbreiten viele Regierungschefs anschließend den Eindruck, dass sie an den Entscheidungen und den Vorhaben der EU vollkommen unbeteiligt seien.

Barroso bestätigt damit (reichlich spät und vermutlich aus Sorge um das Bild „seiner“ Präsidentschaft) weit verbreitete Vermutungen. Demnach nimmt ein Teil der Regierungschefs die EU nicht ernst genug. Der andere Teil wiederum bedient sich der EU als Regierungsinstrument, um Entscheidungen treffen zu können, ohne sich für diese anschließend rechtfertigen zu müssen. Vor allem letzteres ist eine äußerst kurzsichtige Strategie.

Die EU ist zum Regieren und Problemlösen unter den Mitgliedsstaaten aus wirtschaftlicher und teilweise auch sozialer Sicht unerlässlich. Indem man sie ständig als Sündenbock darstellt, entzieht man  diesem Gemeinschaftsprojekt regelmäßig Legitimität. Natürlich gibt es Situationen, in denen Regierungen aufrichtig sagen können, sie waren an Entscheidungen nicht beteiligt. So hat die derzeitige sozialistische Regierung in Frankreich zum Beispiel tatsächlich nicht für den Fiskalpakt gestimmt – die Entscheidung wurde vorher getroffen. Allerdings hat sie es auch nicht geschafft, diesen Pakt neu zu verhandeln. Stattdessen wurde lediglich eine Wachstumskomponente eingefügt. Anstatt immerhin diese Änderung als Erfolg zu verkaufen, hat sich die Regierung entschieden, auf die böse EU zu schimpfen. Die Sozialisten in Frankreich sind natürlich nicht das einzige Beispiel. Seit 1999 haben die Konservativen im Europäischen Parlament die Oberhand. Seit der Osterweiterung sind auch die Mehrheit der Regierungschefs konservativ. Vor allem die CDU und die CSU haben einen großen Einfluss darauf, was in der EU passiert – und was nicht. Trotzdem betreibt vor allem die CSU (und in Teilen auch die CSU) regelmäßiges EU-Bashing. Dabei würde die wirtschaftliche Situation ohne gemeinsame Lösungen auf europäischer Ebene ganz anders aussehen.

Die Anreize, Schuld auf die wehrlose europäische Ebene zu schieben, werden weiterhin hoch bleiben. Zu verlockend erscheint es Regierungen, ungeliebte Entscheidungen oder Entwicklungen auf eine vermeintlich übermächtige Instanz zu schieben. Erst wenn die Bürger nicht nur die Entscheidungen der EU kritisch reflektieren, sondern auch die Schuldzuweisungen nationaler Politiker, wird es Politikern nicht mehr möglich sein, der öffentlichen Kontrolle über die eigenen Entscheidungen zu entgehen.

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