Kleine Stadt (von Philip K. Dick)

Verne Haskel führt ein frustrierendes Leben. Sein Job ist stressig, er wird von niemandem anerkannt und seine Frau betrügt ihn. Daher zieht er sich an jedem Abend zurück in seinen Keller zu seiner Modelleisenbahn. Dort hat er eine perfekte Kopie seiner kleinen Heimatstadt angefertigt. Mit dieser Geschichte beginnt er, seine Stadt zu verändern. Er ersetzt die Geschäfte und Häuser von Menschen, die ihn schlecht behandelt haben, mit einer besseren Version ihrer Läden und/oder Häuser. Vernes Frau Madge sorgt sich zunehmend um den Geisteszustand ihres Gatten. Ihr Liebhaber, der Psychoanalytiker Tyler, hingegen macht sich kaum Sorgen. Er sieht, dass sich Verne immer mehr in seiner eigenen Welt verliert und erkennt, dass dies nicht nur die Affäre mit dessen Frau leichter macht, sondern dass Verne bald wohl auch für immer in seiner Welt verschwinden wird. Tatsächlich ist Verne eines abends verschwunden. Doch bei der anschließenden Spritztour stellen Tyler und Madge fest, dass Vernes Version der „kleinen Stadt“ Realität geworden ist.

„Kleine Stadt“ ist das Porträt eines gebeutelten Mannes. Verne kann mit der Realität nicht leben. Er findet dort keinerlei Anerkennung. Er weiß auch keinen Weg, sich mehr Anerkennung zu verschaffen. Daher flüchtet er sich jeden Abend in seine Modellwelt. Es wirkt beinahe erstaunlich, dass Verne bisher versucht hat ein exaktes Abbild der Realität zu bauen. Sein Entschluss, die Modellstadt zu verändern, verwundert nicht. Überraschend überzeugend wirkt die Art wie Verne seine Veränderungen für real hält. Er strahlt eine enorme Überzeugung aus, dass das was er verändert auch in der Realität geschehen wird. Natürlich kann dies weder Vernes Frau noch der Leser glauben.

Stattdessen vermutet man in den immer intensiveren Veränderungsbemühungen Vernes die Anzeichen eines wachsenden Wahnsinns. Selbst gewalttätige Reaktionen Vernes, um der Realität die Zustände seiner Modellwelt aufzuzwingen, wirken nicht ausgeschlossen. Dazu kommt es durch den fantastischen Twist der Geschichte jedoch nicht. Auf den letzten Seiten wird „Kleine Stadt“ zu einer Fantasygeschichte. Verne verschwindet, was Dr. Tyler nicht einmal besonders verwundert. Er hat sogar eine Erklärung für das Verschwinden in einer Fantasiewelt zur Hand. Für das Paar Madge-Tyler wird die anschließende Autofahrt zur Horrorfahrt. Überall in der Stadt haben sich die Gebäude verändert. Alles ist so wie Verne es sich gewünscht hat – und am Ende werden sie, mit einem offenen Ende, von der Polizei angehalten. Verne hat Rache an der Stadt genommen und ist vermutlich wie in seinen Vorstellungen nun ihr Bürgermeister.

Die Geschichte lässt den Leser mit der Bewertung des Ganzen allein. Natürlich wirkt die Handlung unglaubwürdig. Gleichzeitig ist man sich aber nicht einmal sicher, ob man Verne diese Entwicklung gönnt. Madge und Tyler haben eine Bestrafung für die Art mit der sie Verne behandelt haben, sicherlich verdient. Dennoch ist es ein schrecklicher Gedanke, dass ein frustrierter Mensch allein mit der Macht seines Willen alles verändern könnte. Dick selbst fügt in Notizen an, dass die Geschichte daran erinnern soll, alle mit Respekt zu behandeln, da man nie wisse, wann sie mal Macht erlangen könnten. Das ist ein netter Gedanke, der in dieser Kurzgeschichte arg fantastisch dargelegt wird.

„Kleine Stadt“, 1954, erschienen unter anderem in der Anthologie „Variante Zwei“ im Haffmans Verlag.

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